Thomas P. Becker
Jede Behörde ist nach § 3 des Archivgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (ArchG NW, GVBl. NW. 26, 1989, S. 302-305) verpflichtet, "... alle Unterlagen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht mehr benötigt werden, unverzüglich dem jeweils zuständigen staatlichen Archiv zur Übernahme anzubieten." Der folgende Text soll näher erläutern, welchen Zielen und Aufgaben die gesetzlich geforderte Archivierung erledigter Akten dient und nach welchen Kriterien der Archivar Akten als archivwürdig oder als vernichtbareinstuft.
"Archivierung" von im Dienstbetrieb nicht mehr benötigtem Schriftgut bedeutet, daß diese Akten zur dauernden Aufbewahrung in fachgerecht betreuten Archivmagazinen bestimmt sind. "Dauernde Aufbewahrung" ist hier ganz wörtlich zu verstehen, denn die konservatorische Behandlung im Archiv soll sicherstellen, daß die Akten nicht nur auf Jahrzehnte, sondern auf Jahrhunderte hin benutzbar bleiben. Bezüglich vergangener Epochen verfügt z.B. das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf über Altbestände, in denen die staatliche Überlieferung des rheinischen Raumes in ihrer ganzen historischen Tiefe bewahrt wird, zurück bis zu einer Urkunde KönigLudwigs des Frommen aus dem Jahre 823. Aufgabe des Archivs ist es, die so geschaffene geschichtliche Überlieferung des Wirkens und Handels der Staatsorgane kontinuierlich weiterzuführen. Das Gesetz formuliert dazu: "Die staatlichen Archive haben die Aufgabe, Unterlagen von Behörden, Gerichten und sonstigen Stellen des Landes auf ihre Archivwürdigkeit hin zu werten und die als archivwürdig erkannten Teile als Archivgut zu übernehmen, zu verwahren und zu ergänzen, zu erhalten und instand zu setzen, zu erschließen und für die Benutzung bereitzustellen sowie zu erforschen und zu veröffentlichen." ArchG NW, § 1)
Archive sind "Häuser der Geschichte", in denen die Historiker ihr Material finden, um die Vergangenheit mit dem klärenden Blick zeitlicher Distanz zu analysieren. Das gilt auch für die Historiker späterer Jahrhunderte, die für ihre Analysen darauf angewiesen sein werden, die Aktenüberlieferung der gegenwärtig existierenden Behörden vorzufinden. Das Archiv dient also einem eindeutig definierten Bedürfnis der Gesellschaft, die in der Disziplin Geschichtswissenschaft ein Medium geschaffen hat, um sich mit der je eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Archive dienen zugleich als Gedächtnis einer Behörde. Zur Rekonstruktion vergangener Behördenstrukturen oder zur Entschlüsselung kaum lesbarer handschriftlicher Randverfügungen bedürfen die Archivare der (im Dienstgebrauch einer Behörde längst überholten) Organisationsunterlagen, also etwa der Geschäftsverteilungspläne oder Organigramme. Durch Sammlung dieser Unterlagen sind Archive in der Lage, auch noch nach Jahrzehnten und Jahrhunderten den Aufbau, den Stellenrahmen und - nicht zuletzt - die Namen der Mitarbeitereiner Behörde zu rekonstruieren.
Durch Archivierung ihrer Akten liefert das Archiv einer Behörde also Material für ihre eigene Geschichte. Nur kommt in einem Archiv hinzu, daß hier ebenso die parallele Überlieferung der anderen Ebenen eines Ressorts bewahrt wird. Wer in einigen Jahrzehnten die Geschichte einer Behörde in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts untersuchen will, wird Einblicke und "Durchblicke" gewinnen können, die in der Gegenwart niemand haben kann, weil erst im Archiv (nach Ablauf der Schutzfristen nach § 7 ArchG NW) alle Akten von der unteren Ebene bis hin zur obersten Landesbehörde und zum Kabinettsprotokoll gleichzeitig eingesehen werden können. Nur so wird die Komplexität eines Vorgangs in allen seinen Verästelungen sichtbar. Archivreif und somit dem Staatsarchiv anzubieten sind alle Sachakten, die im Verlauf der Dienstgeschäfte entstanden sind und nicht weiter gebraucht werden. Das Archiv dient nicht als Altregistratur, sondern führt die abgegebenen Akten einer archivischen Behandlung zu. Das bedeutet, daß alle als archivwürdig bewerteten Akten (und diese Bewertung steht nur dem Archivar zu) von allen Metallteilen befreit, durch Leimbindung (Lumbecken) oder durch Fadenheftung alterungsbeständig gebunden und staubgeschützt in säurefreien Pappkartons verpacktwerden.
Die neuformulierten und ergänzten Aktentitel werden nach einer vom Archivar zu erstellenden Klassifikation geordnet und in einem sogenannten "Findbuch" ( = Repertorium) niedergeschrieben. Das Findbuch wird nach Ablauf der Schutzfristen für die archivierten Akten in den Findbuchraum eingestellt, wo es den Benutzern des Archivs zur Verfügung steht. Eine Kopie des Findbuches geht gleich nach der Fertigstellung der abliefernden Behörde zu. Die Titelvergabe für ein Archivale orientiert sich am bisherigen Aktentitel, doch sie gibt den Inhalt einer Akte in sogenannten "Enhält-" Vermerken genauer wieder oder wirft sogar mittels sogenannter "Darin-" Vermerke Schriftstücke aus, die vom Aktentitel her gar nicht in die Akte hineingehören. Archivische Behandlung bedeutet aber auch, daß die abgegebenen Akten zunächst einmal daraufhin überprüft werden, ob sie überhaupt archivwürdig sind. Grundlage für die Entscheidung ist vor allem der sogenannte "Evidenzwert" einer Akte, d.h. die Frage, ob der Inhalt einer Akte das tatsächliche Handeln einer Behörde widerspiegelt oder ob hier lediglich Erlasse der vorgesetzten Behörde gesammelt oder Mitwirkungsakten (bei Federführung einer anderen Dienststelle)geführt werden.
Alle Akten, die keinen das Behördenhandeln dokumentierenden Wert aufweisen, gelten generell als nicht archivwürdig. Die Entscheidung hierüber kann allerdings nur der mit der gesamten Überlieferung vertraute Archivar fällen. Es kann im Übrigen auch sein, daß in einer Akte, deren Evidenzwert äußerst gering ist, Nachrichten über historisch wichtige Vorgänge oder gesellschaftlich bzw. politisch interessante Persönlichkeiten enthalten sind, die an anderer Stelle nicht oder nicht in der gleichen Qualität vorhanden sind. Hier spricht man vom "Informationswert", der ebenfalls zur Archivierung einer Akte führt. Bei massenhaft anfallenden, inhaltlich aber völlig gleichförmigen Akten läßt sich ein Kompromiß zwischen Aufbewahrung und Vernichtung dadurch finden, daß man eine statistischen Grundsätzen genügende Auswahl trifft und die restlichen Akten vernichtet.
In jedem Fall ist die archivische Bewertung ein analytischer Vorgang, der von speziell dafür ausgebildeten Fachkräften vorgenommen wird. Der Archivar des höheren Dienstes ist ein promovierter Historiker, der in der Regel ein mit Staatsexamen abgeschlossenes Hochschulstudium absolviert hat und nach seiner Promotion mit einer Doktorarbeit aus dem Fach Geschichte oder einer verwandten Disziplin (Rechtsgeschichte, Kirchengeschichte) eine zweijährige Referendarausbildung an der Archivschule durchlaufen hat. Auch der Archivar des gehobenen Dienstes hat nach Erlangung der Hochschulreife eine dreijährige Fachschulausbildung mit Diplomabschluß absolviert. Der Schwerpunkt dieser Ausbildung liegt auf dem Fach Archivwissenschaft, dazu kommen Verwaltungslehre, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte sowie Formenkunde staatlichen Schriftgutes von der mittelalterlichen Königsurkunde bis hin zum Computerausdruck heutiger Tage. Überall da, wo einheitliche Aktenpläne vorliegen, läßt sich die Zusammenarbeit zwischen Archiv und Behörde besonders einfach gestalten. Hier ist es möglich, zu generellen Regelungen zu kommen, die für viele Aktengruppen das Anbietungsverfahren vereinfachen. Die Genehmigung des Staatsarchivs für die Vernichtung dieser Akten gilt dann als generell erteilt. Akten aber, deren Evidenzwert nach Meinung der Archivare hoch ist, müssen von allen ressortgleichen Behörden unseres Raumes in gleicher Weise abgeliefert werden, was für spätere vergleichende Forschungen von unschätzbarem Wert ist. Archivierung von Altakten ist also weit mehr als die lästige Pflicht einer Behörde, zu Altpapier gewordene Akten erst noch einer unproduktiven Bewertungsprozedur zu unterwerfen. Sie ist vielmehr die unverzichtbare Voraussetzung dafür, daß zur Beantwortung der Fragen späterer Generationen über das Leben und Handeln unserer heutigen Zeit die notwendigen Materialien bereitgestellt werden. (c) 1993 by Thomas Becker, Bonn