Vernetzung und Zersplitterung: Mathematikernachlässe an der Universität Bonn
von Thomas P. Becker
Zu den Fächern, in denen die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eine große Tradition aufzuweisen hat, gehört zweifellos die Mathematik. Rudolf Lippschitz, Julius Plücker, Felix Klein, Eduard Study, Otto Toeplitz oder Felix Hausdorff haben in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens die mathematische Lehre an der Universität Bonn und die mathematische Forschung in ganz Deutschland entscheidend mitgeprägt, Friedrich Hirzebruch, der Gründungsdirektor und langjährige Leiter des Bonner May-Planck-Instituts für Mathematik, tut es noch heute. Kein Wunder also, daß sich in Bonn, verteilt auf die Universitätsbibliothek und das Archiv, etliche mehr oder weniger umfangreiche Nachlässe Bonner Mathematiker befinden. Durch Projekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder durch die eigenen Kräfte von Bibliothek und Archiv sind diese Materialien wenigstens einigermaßen erschlossen und stehen der mathematikgeschichtlichen wie auch der universitätshistorischen Forschung zur Verfügung.
Die Bonner Mathematiker-Nachlässe, die darin möglicherweise paradigmatisch sein könnten für Mathematiker-Nachlässe auf der ganzen Welt, haben ihre Besonderheiten und besonderen Schwierigkeiten. Diese mögen aus dem besonderen Verhältnis des Mathematikers zur universellen Sprache der Mathematik herrühren, die sich nur schwierig in gedruckte Lettern fassen läßt und daher zu einer Wertschätzung der handschriftlichen Notiz führt, der in den Geisteswissenschaften nichts Vergleichbares an die Seite zu setzen ist. Wie wichtig in der Welt der Mathematik die formelgespickte Notiz ist, vermag ein Blick in die Ausgabe der Werke des Bonner Mathematikers Felix Hausdorff zu zeigen. Das aufwendig mit teurem Leinenumschlag ausgestattete voluminöse Buch beinhaltete nach der in üblicher Weise gesetzen Einleitung einen faksimilierten Abdruck von handschriftlichen Notizen aus Hausdorffs Nachlaß, wobei die nicht ganz leicht entzifferbare Schrift sichtlich weniger Bedeutung hat als die Zahlen und Formeln, die dort in exakter Schreibweise niedergelegt sind. Diese besondere Form der Überlieferung, die neben der Mathematik natürlich auch anderen Naturwissenschaften wie der Physik und der Chemie anhaftet, führt bei der Verzeichnung von Mathematiker-Nachlässen zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten, wie wir gleich sehen werden.
Paradigmatisch für die Schwierigkeiten bei Mathematiker-Nachlässen soll hier der Nachlaß von Erich Bessel-Hagen vorgestellt werden. Bessel-Hagen wurde am 12. September 1898 in Berlin-Charlottenburg geboren. Sein Vater war der Geheime Sanitätsrat, Professor der Chirurgie und Direkter des Städtischen Krankenhauses Charlottenburg-Westend Friedrich Carl Bessel-Hagen (1856-1945), seine Mutter Auguste Emilie Helene, geb. Frentzel (1868-1945), die Tochter des Geheimen Kommerzienrates, Präsidenten des Deutschen Handelstages und Mitglieds des Preußischen Herrenhauses Adolf Emil Frentzel (1833-1905). Das 1917 begonnene Studium der Mathematik und Physik schloß Bessel-Hagen 1920 mit einer bei Constantin Carathéodory in Berlin verfaßten Dissertation "Über eine Art singulärer Punkte der einfachen Variationsprobleme in der Ebene" ab. Sein weiterer Lebensweg führte ihn nach Göttingen, wo er sich als Privatassistent von Felix Klein auf die (1925 erfolgte) Habilitation vorbereitete. Zwei Umhabilitationen, 1927 nach Halle und 1928 nach Bonn, folgten. Hier in Bonn erlebte er dann die weiteren Schritte seiner akademischen Karriere: nach einem Lehrauftrag seit dem 29.8.1929 die Berufung zum nicht beamteten außerordentlichen Professor 1931 und zum außerordentlichen Professor 1939, was in der nun folgenden Kriegszeit der bis zu seinem frühen Tod versehenen Tätigkeit des geschäftsführenden Direktors des mathematischen Instituts der Universität Bonn gleichkam, weil die beiden bedeutenden Ordinarien Otto Toeplitz und Felix Hausdorff als Juden durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von der Universität verdrängt worden waren. Der umfangreiche Nachlaß des auch in der Fachwelt nur wenig bekannten Professors Bessel-Hagen wurde nach seinem Tod im Mathematischen Institut der Universität aufbewahrt, von wo aus er 1981 ins Universitätsarchiv gelangte. Spätestens dort beginnt die Problematik dieses Nachlasses. Eine wissenschaftliche Hilfskraft des Archivs übernahm die Sichtung und Ordnung der umfangreichen Materialien und erstellte ein Findbuch, das zwar die Inhalte nur auf der reinen Titelebene aufführte (also ohne eine tiefergehende Verzeichung durch Enthält- und Darin-Vermerke), aber durch Klassifikation und Titelaufnahme dennoch nach archivischen Gesichtspunkten aufgebaut war. Wissenschaftliche Hilfskräfte in Universitätsarchive sind meistens Absolventen der Geschichtswissenschaft, und nur sehr selten haben sie das nötige Sachverständnis, um die geheimnisvolle Formelsprache naturwissenschaftlicher Notizen und Vorlesungs-Präparationen zu erfassen. Wie sich später zeigte, sind die Präparationsnotizen zu einem mehrsemestrigen Vorlesungszyklus aus den Jahren 1930-1932 über die mathematische Physik über den gesamten heutigen Nachlaß verstreut. Der Zyklus umfaßte die Vorlesungen "Differentialgleichungen und Integralgleichungen der mathematischen Physik" , "Variationsrechnung", "Trigonometrische Reihen" , "analytische Mechanik" und "Kolloquium über die Geschichte der Variationsrechnung". Die Ausarbeitungen zu den beiden letztgenannten befinden sich unter andere Materialien gemischt in den Bestandssignaturen NL Bessel-Hagen 213, 239, 246, 248, 255.3, 255.6, 256.2 - 6, 257, 291 und 296. Zweifellos ist die Unordnung nicht erst durch die Verzeichnung zustandegekommen. Aber wie sich zeigt, hat die Verzeichnung hier auch nicht dazu führen können, daß zusammengefügt wurde, was einstmals zusammengehörte. Hintergrund dieses Umstandes ist die Liebe zur handschriftlichen Notiz, deren im wahrsten Sinne des Wortes "formelhafte" Sprache dem Bearbeiter zum Verhängnis wurde.