Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch? - wer von den Schülern Ernst Schulins würde nicht dieses Begriffspaar als Beschreibung für die Tätigkeit des Historikers kennen. Mit seinem Instrumentarium der wissenschaftlichen Quellenkritik und mit seiner an historischer Erkenntnis geschulten Interpretationsfähigkeit geht der Historiker - gleich welchen Geschlechtes - daran, das, was einmal war, zu rekonstruieren und so aus Geschehenem ?Geschichte? zu machen. Dabei ist er nicht selten geneigt zu vergessen, daß der liebe Gott zwischen das historische Geschehen und das Konstrukt des Historikers den Archivar gesetzt hat, jene unscheinbare, staubbedeckte und vom vielen Sitzen in lichtarmen Gewölben zuweilen etwas sonderlich gewordene Person, die von allen ein wenig belächelt wird. Auch vom Historiker, der den Archivar vielleicht sogar schätzt, weil er doch so gut über die vielen Regalmeter seiner verstaubten Akten Bescheid weiß und einem mit untrüglichem Gedächtnis Hinweise geben kann, in welchem verstaubten Aktenbüschel welcher höchstgeheimen Registratur welches deutschen Kleinfürsten man noch nachschauen könne, um bei der Erforschung historischer Sachverhalte der Lösung der einen oder anderen Frage einen Schritt näher zu kommen.
Als vor einigen Jahren der Kinofilm "Mit Schirm, Charme und Melone " anlief, war er für die Mailingliste des amerikanischen Archivarsverbandes der Anlaß zu einer längeren Debatte über das Erscheinungsbild des Archivars in der Öffentlichkeit. Ist es doch so, daß der mit bürokratischen Gepflogenheiten wohlvertraute Geheimagent John Steed zur Lösung des Rätsels um eine gefährliche Manipulation des Londoner Wetters das Archiv des Secret Service aufsucht. Der dortige Archivar, der alte Colonel Jones, macht genau das, wofür ihn auch jeder Historiker schätzen würde: Kaum hat er die Frage des Agenten vernommen, holt er mit untrüglichem Gedächtnis aus der Fülle seiner Unterlagen genau die richtigen Akten und Pläne hervor, ist also zuverlässiger und kompetenter Wegweiser, in seine Akten verliebt und fast schon eins mit ihnen. Und er ist - zumindest in diesem Film - völlig unsichtbar. Man erkennt seine Anwesenheit nur daran, daß er Tee trinkt, seine Pfeife schmaucht und ab und zu einen Aktendeckel auf- und zuklappt. Sinnigerweise wird dieser unsichtbare Colonel Jones übrigens von Patrick McNee gespielt, der in der berühmten Fernsehsendung "Mit Schirm, Charme und Melone", die mit der Kinofassung fast nur noch den Namen gemeinsam hat, die Rolle des John Steed spielte. Nur eine filmische Übertreibung? Oder nicht doch viel mehr? Der alte Secret-Service-Colonel, um den es hier geht, wurde durch ein mißlungenes chemisches Experiment unsichtbar. Im Archiv hat man für den so Versehrten dann eine neue Werkstätte gefunden. Auch das - neben der Gesichts- und Konturlosigkeit - ein Merkmal, das für das Bild des Archivars in der Öffentlichkeit (und auch bei manchen Historikern) typisch ist. Dahinter steht nämlich die Überzeugung, daß die Aufgabe des Archivars eine passive ist, daß sie in der Bewahrung schriftlicher Zeugnisse der Vergangenheit besteht, so wie ein Museumswärter seine Exponate bewacht. Als John Steed, der nach wenigen Minuten vom Archivar freigiebig alle erforderlichen Informationen erhalten hat, um den verzwickten Fall im Handumdrehen zu lösen, den Colonel erstaunt fragt, warum er alle seine Kenntnisse über diese gefährlichen Wetterexperimente nie jemandem erzählt hat, antwortet dieser nur: "Es hat mich nie jemand danach gefragt."
Der Archivar also, wie ihn dieser Film zeigt, ist ganz passiv und im Keller verborgen. Er wartet ergeben auf irgendjemanden, der seine Informationen anzapfen will, tut also eigentlich gar nichts. Colonel Jones erläutert sein Schicksal so, daß er im aktiven Dienst war, bis dieser Unfall passierte. "Jetzt bin ich hier im Keller gelandet und freue mich schon, wenn der Teewagen vorbeikommt." Auch dies ist eine der Vorstellungen über den Archivar, die wohl weit über den genannten Kinofilm hinaus Akzeptanz finden könnte: Archivar werden kann eigentlich jeder, einer besonderen Ausbildung bedarf es dazu wohl nicht, weshalb auch derjenige, der durch gesundheitliche Gebrechen nicht mehr zum aktiven Dienst taugt, sein Gnadenbrot am besten - weil sozialverträglich und für alle folgenlos - im sicheren Gewahrsam des Archivs fristen kann. Wenn er nicht nach seinem Wissen gefragt wird, tut er eigentlich gar nichts außer in verstaubten Akten herumzublättern. Ein passiver, je nach Charakter hinderlicher oder hilfreicher dienstbarer Geist, der still in seinem Aktenkeller sitzt und darauf wartet, daß jemand den Weg zu ihm findet, um an seinem enzyklopädischen Wissen über Aktenzeichen und Bestandsgliederungen teilzuhaben? Ist das nicht - Hand aufs Herz - das Bild, das auch in Historikerkreisen weit verbreitet ist? Nur fragt sich, ob der Historiker mit seiner Vorstellung vom passiven dienstbaren Archivar nicht einer Täuschung aufsitzt.
Der Historiker, in seinem Drang nach Wiederherstellung des vergangenen Geschehens, sucht sich nach bestem Wissen und Gewissen in den Archiven die Bausteine für seine Konstruktionen zusammen. Wichtig ist ihm vor allem, daß er dabei keinen Stein übersieht, vor allem keinen, der sein Gebilde zum Einsturz bringen könnte, wenn ein anderer ihm diesen in einer vernichtenden Rezension unter die Nase hält. Daß beim Wiederaufbau eines historischen Gebildes immer Lücken bleiben, sprich, daß die Komplexität eines Geschehens nicht in allen ihren Aspekten in den Quellen ihren Niederschlag gefunden hat, gehört zum Grundwissen der historischen Methode. Das vorgefundene Baumaterial aber - um im Bild zu bleiben - scheint deswegen lückenhaft zu sein, weil die höhere Gewalt von Kriegen, Brand-, Flut- und anderen Katastrophen oder eben die willkürlich zugreifende Hand des Schicksalsgottes es so gewollt haben, und nicht etwa, weil der gezielte Eingriff amtlicher Aktenbewerter in die einstmals vollständige Informationsmasse Lücke um Lücke gerissen hat. Wer würde auch - so etwa könnte die entrüstet gestellte Frage lauten, wenn denn ein Historiker überhaupt auf die Idee käme, sie zu stellen - wer würde denn auch so dumm sein, Materialien, die eventuell einmal für historische Forschung relevant werden könnten, dem Reißwolf zu überantworten? Da kann doch kaum etwas fehlen, wenn es denn nicht durch das Fatum der Vernichtung preisgegeben wurde!
Weit gefehlt! In der Bundesrepublik Deutschland werden jährlich viele hundert Tonnen Papier verbraucht, um darauf die Dokumentation politischen, wissenschaftlichen oder verwaltungsmäßigen Handelns festzuhalten. Fast genau soviel, nämlich zwischen 95 und 97 % davon, werden nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen von den dafür zuständigen Archivaren in den Orkus der amtlichen Aktenvernichtung geschickt. Und das nicht erst seit gestern. Schon in den 60er Jahren, als der damalige Präsident des Bundesarchivs, Prof. Dr. Hans Booms, die sog. "kopernikanische Wende der Archivwissenschaft" einleitete, liegt das Hauptaugenmerk des Archivars nicht mehr auf der Frage, was aufzubewahren, sondern darauf, was wegzuwerfen sei. Und vorher? Ein organisiertes Archivwesen, das seine Arbeit im Dienste der Geschichtswissenschaft verrichtete, gab es schon im 19. Jahrhundert. Kein geringerer als der Historiker Heinrich von Sybel schuf seine organisatorischen Grundlagen. Aufbewahren und gezielt übernehmen, das war die Devise, um der Geschichtswissenschaft das nötige Material für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. Nur - was war das Nötige, daß zur Rekonstruktion der Historie unabdingbare, und was das Unnötige, das zu bewahren und zu übernehmen gar nicht erst der Mühe wert war? Dies zu entscheiden, wurde Aufgabe des Archivars. Er hatte zu entscheiden - und er tut es noch heute - was von den abgelaufenen Akten Altpapier ist, das in den Reißwolf kann,und was ewig aufzubewahrendes Kulturgut ist.
Der Archivar also determinierte mit seiner Entscheidung die Erkenntnismöglichkeiten des Historikers, er also bestimmte - um wieder das Bild vom Bauen aufzunehmen - welche Steine als Baumaterial übrig bleiben sollten und wie sie zu behauen waren, damit später der Historiker daraus sein Gebilde bauen konnte. Damit stellte der Archivar der historiographischen "Rekonstruktion" eine archivarische "Präkonstruktion" voran, indem er weitgehend bestimmt, was der Historiker überhaupt rekonstruieren konnte und was nicht. Der Archivar macht damit keinen eigenen Rekonstruktionsversuch, aber seine präkonstruktive Arbeit gibt der historiographischen Rekonstruktionstätigkeit sozusagen den Bebauungsplan vor. Und welche Kompetenz hatte er dafür, daß er die Erkenntnismöglichkeiten des Historikers so sehr präfigurierte? Die, selber Historiker zu sein. Und das war durchaus ein Problem. Denn Historiker zu sein, das bedeutete, in der Regel ein männlicher, loyaler, staatstragender Beamter mit humanistischem Bildungshintergrund zu sein. Und das entscheidende Auswahlkriterium für die Bewertungsentscheidung des Archivars war die Frage, inwieweit der Inhalt zu bewertender Akten dem eigenen Gefühl nachvon historischem Interesse sein könnte.
Diese Methode, potentielle Archivalien danach zu bewerten, ob etwas dem eigenen historischen Bewußtsein nach "interessant" sein könne, welche für viele Jahrzehnte die Leitlinie deutscher Archivare war, klammerte unter den Bedingungen der Rekrutierungspraxis in der deutschen Archivverwaltung eine ganze Reihe von historischen Informationen aus dem Bereich des "Interessanten" aus, die für eine heutige sozialgeschichtlich orientierte Geschichtswissenschaft von hohem Interesse gewesen wäre. Dies hat zu einer Gegenbewegung geführt, der wir verschiedene Archive der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung oder verschiedener sozialer Bewegungen verdanken, die sich alle durch die von ausgebildeten Archivaren geleiteten staatlichen oder kommunalen Archive nicht repräsentiert fühlten. Dies dürfte auch in den anderen Ländern der westlichen Welt nicht viel anders gewesen sein. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, hat in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA die Suche nach einem neuen Bewertungsmodell begonnen. Es galt, eine Theorie zu finden, in der die historische Standortgebundenheit des Bewerters zugunsten einer objektiven Methode abgelöst wurde, die auch mehrere Jahrhunderte später noch Bestand haben konnte. Am ehesten erfüllt dieses Kriterium die Evidenzwert-Theorie des amerikanischen Nationalarchivars Theodore Schellenberg. Er versucht mit seiner Analyse nur solche Akten bestehen zu lassen, die das Handeln der aktenbildenden Institution sichtbar - also evident - machen. Dies ist ein rein formaler Gesichtspunkt, den der Inhalt der Akte gar nicht tangiert. Das Aushandeln eines Atomwaffensperrvertrages ist schließlich genauso behördliches Handeln wie das Bestellen von Radiergummis. Zudem löst sich dieses mechanische Auswählen ganz von der Kompetenz des Historikers. Und darin liegt eine Gefahr. Denn wenn auch die enge Symbiose zwischen Historiker und Archivar, welche die Zeit zwischen 1850 und 1950 kennzeichnete, notwendigerweise von der Emanzipation der Archivwissenschaft als eigenständiger Disziplin abgelöst werden mußte, so darf die Bindung zwischen Historiker und Archivar doch nicht verlorengehen. Gerade im 21. Jahrhundert ist das aber nicht selbstverständlich. Angesichts der Tendenz der öffentlichen Verwaltung zur Digitalisierung ihres Schriftgutes ist schon längst der Ruf laut geworden, den Historiker-Archivar abzulösen durch den Informatiker-Archivar, der nicht mehr staubverkrusteter Aktenhengst, sondern durchgestylter Internet-Surfer sein soll. An die Stelle einer auf die Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft hin orientierten Bewertungs- und Ordnungsarbeit des Archivars soll die Kombination von Volltextrecherche und Suchmaschine treten. Der Archivar ist damit wirklich das, was im Film "Mit Schirm, Charme und Melone" angedeutetwar: völlig unsichtbar.
Ein präkonstruierendes Eingreifen in die Arbeit des Historikers gibt es damit nicht mehr. Allerdings auch kein helfendes Hinweisen mehr. Denn wenn dem Archivar die eigene historische Erfahrung in der Rekonstruktion von Vergangenheit fehlt, geht ihm auch das Verständnis dafür verloren, welche Bedürfnisse der Historiker für seine Arbeit hat. Es wäre daher der Geschichtswissenschaft dringend anzuraten, den Schulterschluß mit der Archivwissenschaft zu suchen und die Archivare in die Diskussion um neue Felder historischer Forschung mit hineinzunehmen. Gleichzeitig sollten die Historiker sich mit den Ordnungs- und Bewertungskriterien der Archivwissenschaft auseinandersetzen und auf die Bewertungsdiskussion stärkeren Einfluß nehmen, um ihre Bedürfnisse und Forderungen anzumelden. Umgekehrt muß auch die Archivwissenschaft aus ihrer "zölibatären Vereinsamung" (Volker Schockenhoff mit Bezug auf eine Aussage von Gerhard Leidel) herauskommen und sich dem interdisziplinären Dialog stärker als bisher öffnen, um überhaupt mit ihren Theorien und Methoden bekannt zu werden. Wenn nämlich der Archivar die Entwicklungen und die neu erwachsenden Bedürfnisse der Historiker kompetent mitverfolgt und sich zugleich auf Grund seiner archivwissenschaftlichen Ausbildung bewußt ist, daß er durch seine Bewertung von Akten nicht die historischen Fragestellungen zukünftiger Generationen abschneiden darf, dann wird die Präkonstruktion des Archivars zur Hilfestellung für die Rekonstruktion des Historikers. Löst man dieses Band, ersetzt man den Historiker-Archivar durch den Daten-Junkie, dann schadet man beiden: man hinterläßt den einen gesichtslos und den anderen hilflos.
Film
Mit Schirm, Charme und Melone (Titel USA: The Avengers), USA, 1998. Darsteller: Ralph Fiennes (John Steed), Uma Thurman (Emma Peel), Sean Connery (Sir August de Winter), Fiona Shaw (Father), Jim Broadbent (Mother), Eddie Izzard (Bailey), Eileen Atkins (Alice), John Wood (Trubshaw) Regie: Jeremiah S. Chechik Informationen: http://www.dem.de/entertainment/kino/110/110208.html
Literatur
Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik archivarischer Quellenbewertung, in: Archivalische Zeitschrift 68 (1972), S. 3-40.
Derselbe, Überlieferungsbildung. Archivierung als eine soziale und politische Tätigkeit, in: Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds, hrsg. von Friedrich Beck/ Wolfgang Hempel/ Eckart Henning, Potsdam 1999, S. 77-89.
Robert Kretzschmar, Archivische Bewertung und Öffentlichkeit. Ein Plädoyer für mehr Transparenz bei der Überlieferungsbildung, in: Archiv und Öffentlichkeit. Aspekte einer Beziehung im Wandel. Zum 65. Geburtstag von Hansmartin Schwarzmaier, hrsg. von Konrad Krimm und Herwig John, Stuttgart 1997, S. 145-156.
Peter Krüger, Geschichtswissenschaft und Archive. Der Nutzen einer Professionalisierung des Archivarsberufs für die historische Forschung, in: Qualitätssicherung und Rationalisierungspotentiale in der Archivarbeit. Beiträge des Zweiten Archivwissenschaftlichen Kolloquiums, hrsg. von Karsten Uhde, Marburg 1997, S. 11-28.
Angelika Menne-Haritz, Umrisse einer zukünftigen Archivwissenschaft, in: 50 Jahre Verein deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland. Referate des 67. Deutschen Archivtags 1996 in Darmstadt, Siegburg 1997, S. 177-185.
Dieselbe, Das Provenienzprinzip als Bewertungssurrogat? In: Der Archivar 47 (1994), Sp. 229-252.
Herbert Obenaus, Archivische Überlieferung und gesellschaftliche Wirklichkeit, in: Archive und Gesellschaft. Referate des 66. Deutschen Archivtags in Hamburg, Siegburg 1996, S. 9-34.
Volker Schockenhoff, Nur zölibatäre Vereinsamung? Zur Situation der Archivwissenschaft in der Bundesrepublik 1946 - 1996, in: 50 Jahre Verein deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland. Referate des 67. Deutschen Archivtags 1996 in Darmstadt, Siegburg 1997, S. 163-176.
Derselbe, Nur keine falsche Bescheidenheit. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen archivarischen Bewertungsdiskussion in der Bundesrepublik, in: Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds, hrsg. von Friedrich Beck/ Wolfgang Hempel/ Eckart Henning, Potsdam 1999, S. 91-111.
Ernst Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken. Göttingen. 1979.