APO und Studentenproteste von 1968 als bundesweites Phänomen

von Thomas Becker

Vor 30 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland von Ereignissen erschuettert, die unter verschiedenen Bezeichnungen immer wieder mit Studenten in Verbindung gebracht werden: Studentenrevolte, studentische Rebellion, Studentenunruhen, Protestbewegung oder einfach Studentenbewegung sind die gaengigen Bezeichnungen dafuer. Landlaeufig versteht man darunter das Aufbegehren der deutschen Studierenden gegen bestimmte politische Angelegenheiten einerseits und gegen die gesellschaftlichen Zustaende der Bundesrepublik Deutschland andererseits. Ziele des Protestes waren vor allem die Vietnampolitik der USA, die Plaene zur Einfuehrung einer Notstandsgesetzgebung in der Bundesrepublik, die mangelnde Mitbestimmung an den deutschen Hochschulen und die Verbesserung der Ausbildungsbedingungen. Angefacht wurde der Protest durch den Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS, dessen Fuehrer Rudi Dutschke zur zentralen Figur der Bewegung avancierte.

Ist das so? An einer solchen Beschreibung ist ebensoviel falsch wie richtig. Tatsaechlich ist das Phaenomen der Studentenbewegung so vielschichtig und komplex, daa es sich einer einfachen Beschreibung eher entzieht. So wird schon allein die Reduzierung des SDS auf den Protest gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg der neomarxistischen Ausrichtung seiner Chefideologen nicht gerecht, deren Intentionen auch bei einer sofortigen Beendigung des Krieges oder einer Ablehnung der Notstandsgesetze nicht im geringsten erfuellt worden waeren.

Fragen wir nach den Geschehnissen dieser Tage, stossen wir auf ein Paradox. Aktionen der 68er-Bewegung waren immerhin: Steinwuerfe auf einen amerikanischen Aussenminister, gewaltsames Eindringen in Rektoratsraeume, Verkehrsstoerungen, Belagerung eines Verlagshauses, Strassenschlachten mit insgsamt drei Toten und vielen Verletzten, Beleidigungen, Drohungen, Taetlichkeiten, Schmierereien, Verfuehrung von Unmuendigen zu Promiskuitaet und Drogenmissbrauch, Bomben- und Brandanschlaege. Fuer einen deutschen Beamten, einen Innenminister gar, duerfte das der Gipfel des Verwerflichen sein. Und doch hat der hessische Innenminister Boecking Anfang Maerz 1998 bei der Abfahrt eines Museums-,,Zeitzuges" zur Dokumentation der Revolution von 1848 in einem Interview der Tagesschau bedauert, dass er 1968 nicht aktiver am revolutionaeren Geschehen beteiligt war. Andere, die als Hochschullehrer die Revolte der Studenten erlebten, koennen auch heute noch nicht ihre Wut und ihren Hass unterdruecken auf diejenigen, die damals den Geist der alten Alma Mater zerstoerten und die Professoren erschreckten und demuetigten. Es gibt also einen ,,Mythos 68", der ebenso anziehend wie abschreckend wirken kann. Ihn sollten wir im Kopf behalten, wenn wir nach Ausdehnung und Erscheinungsform der Studentenbewegung in der Bundesrepublik fragen.

Das aus der Literatur bekannte chronologische Raster der Studentenunruhen geht von 1967 bis 1970. Danach beginnt sie mit den toedlichen Schuessen auf den Berliner Studenten Benno Ohnesorg durch den Kriminaloberinspektor Kurras am Abend des 2. Juni 1967 bei einer Kundgebung gegen den Schah von Persien. Durch diese Tat, ueber die das Fernsehen in seiner Tagesschau berichtete, erfuhr der deutsche Durchschnittsbuerger von der Unruhe, die unter den politisierten Studenten ausgebrochen war.

Die weitere Eskalation der Bewegung und ihr Versanden durch Aufsplitterung ist wie folgt:

2.6.1967: Tod des Studenten Benno Ohnesorg;

11.4.1968: Attentat auf Rudi Dutschke;

11.-15.4.1968: Osterunruhen;

11.5.1968: Sternmarsch auf Bonn;

4.11.1968: ,,Schlacht am Tegeler Weg";

7.1.1969: Besetzung des soziologischen Instituts in Frankfurt;

Maerz 1970: Aufloesung des SDS

Mehreres an dieser Aufzaehlung ist schwierig. Zunaechst einmal sind fast alle Ereignisse, die in der Literatur zum Thema Studentenrevolte immer wieder genannt werden, in Berlin passiert. In der Tat war Berlin der Focus der politischen Studentenbewegung, und innerhalb Berlins war es die FU mit ihrer besonderen Geschichte einer aus der Studentenschaft heraus inszenierten Gruendung, an der sich die ersten Gruppen dieser neuen Bewegung fanden und formten. Ihre teilweise schrillen Aktionen zogen in den Jahren der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht in besonderer Weise die Medien an.

Im Zentrum der Berichterstattung standen jeweils Aktivisten des SDS, vor allem Rudi Dutschke, oder Mitglieder der sog. ,,Kommune 1" in Berlin. Das laesst nach dem quantitativen Verhaeltnis von SDS und uebriger Studentenschaft fragen. Das Ergebnis ist fuer solche, die das Geschehen nicht selber erlebt haben, einigermaaen erstaunlich: 1966/67: 254400 Studierende - 1200 SDS-Mitglieder 1968/69: 289201 Studierende - 2500 SDS-Mitglieder.

Der SDS, der von dem Tod Benno Ohnesorgs und der bundesweiten Empoerung darueber ohne Zweifel profitiert und seine Mitgliederzahlen verdoppelt hat, ist gleichwohl nie zu einer Massenorganisation der Studierenden geworden. Ganz im Gegenteil finden sich an den Hochschulen der BRD, an denen er Mitglieder hatte, selten Gruppen mit mehr als 50 Teilnehmern. Trotzdem ist sein Verbreitungsgrad erstaunlich. Willy Albrecht hat in seiner SDS-Geschichte Gruppen an folgenden deutschen Hochschulen aufgefuehrt: Aachen, Berlin (FU, TU, PH, VBS), Bielefeld, Bonn, Braunschweig, Celle (PA), Darmstadt (TH), Dortmund (PH), Duesseldorf, Erlangen, Frankfurt, Freiburg, Germersheim, Gieaen, Goettingen, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Jugenheim (Pi), Karlsruhe, Kettwig (PH), Kiel, Koeln, Lueneburg (PH), Mainz, Mannheim, marburg, Moenchengladbach (Textil-FH), Muenchen, Muenster, Neumuenster (Notkurs fuer Lehrerbildung), Nuernberg, Saarbruekken, Speyer, Stuttgart, Tuebingen, Weilburg (PA), Wilhelmshaven, Wuerzburg und Wuppertal (PH).

Der SDS vertrat seit Mitte der 60er Jahre eine neomarxistische Linie, die sich vor allem an den Theorien der ,,Frankfurter Schuleu orientierte, die aber ihre Anleihen auch aus den kommunistischen Revolutionen in China und Kuba bezog. Diese politische Ausrichtung des SDS wie auch seine Aktionen waren nicht erst seit 1967 bekannt. Schon beim Besuch des kongolesischen Staatspraesidenten Moise Tschombe 1964 war der SDS aufgefallen, schon 1966 hatte der SDS unter der Fuehrung von Rudi Dutschke eine Vietnam-Woche durchgefuehrt, an deren Ende Dutschke zur ,,ausserparlamentarischen Opposition" gegen die Groae Koalition aus SPD und CDU aufrief, und schon seit eben dieser Zeit agitierte der SDS gegen die Notstandsgesetze, die von dieser groaen Koalition vorbereitet wurden. Viele spaetere Protagonisten der Studentenbewegung waren schon akti~' viele programmatische Aussagen waren schon formuliert, und Sprachrohre wie die Zeitschrift ,,konkret", die schon seit 1960 von UIrike Meinhoft mitgestaltet wurde, gab es ebenfalls schon vor 1967.

Wenn wir also fragen wollen, warum diese relativ kleine Gruppe, diese ,,kleine radikale Minderheit", eine so grosse Akzeptanz bei der deutschen Studentenschaft fand, dass ihre politischen Aktionen 1968 von zehntausenden von Studierenden mitgetragen wurden, dann koennen wir die Antwort nicht beim SDS finden, dessen programmatisches wie personelles Angebot schon laenger vorhanden war. Wir muessen nach der Situation der Studierenden fragen, die 1968 den Protest trugen. Die Zahl der Studierenden in Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich gestiegen. 1950 schon hatte sie die Grenze von 100.000 ueberschriffen. In den beiden kommenden Jahrzehnten verdreifachte sich allerdings die Zahl der Studenten bis zur Hoehe von 307359 im Jahre 1970. Diese Studenten entstammten zweifellos den verschiedensten sozialen Schichten. Genaue Untersuchungen, das hat erst kuerzlich Peter Dohms in ,,Geschichte im Westen" beklagt, gibt es ueber sie nicht. Aber es laesst sich anhand der Finanzierungsmoeglichkeiten fuer das Studium zumindest eine gewisse Aussage ueber die soziale Herkunft wagen: Nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1965 bekamen 8% Mittel nach dem Bundesversorgungsgesetz, 14% bezogen Unterstuetzung aus dem sog. "Honnefer Modell", 16% verdienten sich das Geld fuer ihr Studium selber, aber 62% wurden allein von den Eltern unterstuetzt. Das laesst den Schluss zu, dass die ueberwiegende Zahl der der 300.000 Studierenden dem buergerlichen Mittelstand entstammten, eine Annahme, die auch mit den Beobachtungen vieler Autoren uebereinstimmt. Nach einer Umfrage der TH Hannover aus dem Jahr 1965 kamen 40% aller Studierenden aus Universitaetsstaedten, obwohl nur 20% aller Bundesbuerger in einer solchen Stadt wohnten.

Wenn auch die Studentenzahlen an den einzelnen deutschen Universitaeten fuer heutige Verhaeltnisse laecherlich gering klingen (Bonn 15.000, Muenchen 25.000, Tuebingen 16.000), waren sie doch fuer den Lehrbetrieb Ende der 60er Jahre eine Belastung. Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen war daher an allen angestammten deutschen Universitaeten anzutreffen. Dies vor allem, aber auch tiefgreifende Veraenderungen in der Einstellung zur Lebensgestaltung und zum gesellschaftlichen Miteinander, auf die noch einzugehen ist, schufen den Naehrboden fuer eine Protesthaltung, die nicht erst mit den Berliner Ereignissen vom Juni 1967 begann. Noch vor dem 2. Juni 1967 fanden auch ausserhalb Berlins die verschiedensten Protestkundgebungen statt:, u.a. in Bonn, Frankfurt, Giessen, Marburg, Muenchen, Heidelberg oder Tuebingen. Neben diesen allgemeinpolitischen bzw. hochschulpolitischen Anlaessen gab es an vielen Hochschulstandorten seit 1966 Demonstrationen von Studenten gegen Mensapreiserhoehungen und Fahrpreiserhoehungen.

Sowohl das Einueben von Demonstration als Mittel zur politischen Auseinandersetzung als auch eine beginnende Politisierung lassen sich noch vor dem entscheidenden Datum ,,2. Juni" feststellen. Allerdings koennen wir gleichzeitig feststellen, daa es gegen die politische Agitation noch erhebliche Vorbehalte gab. Die Asten von Bonn und Mainz distanzierten sich von einigen Aktionen. Die Frage des allgemeinpolitischen Mandates der Studentenvertretung war - etwa in Koeln - umstritten. Doch der Tod von Benno Ohnesorg war ein Schockerlebnis' das in vielen deutschen Universitaetsstaedten die Bereitschaft der Studierenden zu einer Solidarisierung mit der vom SDS getragenen Studentenbewegung enorm ansteigen liess.

Die Grundtendenz der deutschen Studierenden ging in Richtung politisches Engagement. Ziel war jedoch nicht die politische Betaetigung im herkoemmlichen Sinne der politischen Studentenvereinigungen oder der Parteien. Vielmehr ging es den Studierenden um eine neue Art der Lebensgestaltung und um neue Modelle des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es hatte sich im Verlauf der 60er Jahre ein neuer Konsens ueber die Organisation des Alltags und ueber gesellschaftliche Werte entwickelt, der denen, die aelter waren, nur noch schwer zugaenglich war. Man kann das ablesen an Symbolfiguren der Bewegung wie Theodor W. Adorno oder Klara Marie Fassbinder. Dass Frankfurter Studentinnen glaubten, den geistigen Vater der Studentenbewegung durch ihre entbloessten Brueste aus der Reserve seiner buergerlichen Verhaltensweise locken zu koennen, darf als Symbol fuer gescheiterte Kommunikation gesehen werden. Und ueber die engagierte und jungen Menschen zugetane alte Dame Klara Marie Faabinder sagte die Bonner Aktivistin und heutige feministische Schriftstellerin Florence Hervé, dass sie die jungen Frauen der Bonner Studentenbewegung zwar ermutigte, aber ihre Vorstellungen von Kinderlaeden und emanzipertem Rollenverhalten einfach nicht verstand.

Die Revolte der Studierenden war, das zeigt sich an vielen vielen Beispielen, in allererster Linie keine politische Aktion zur Erreichung eines festgesetzten politischen Zieles, sondern sie war ein Kulturrevolution, deren Ziel es war, eine Gegengesellschaft zu der bisher bestehenden buergerlichen Wirtschaftswunderwelt aufzubauen. Fuer diese Bestrebungen gibt es eine Variationsbreite, die von der extremen Erscheinungsform des amerikanischen Underground oder der Berliner "Kommune 1" bis zur politisch konservativen Schicht katholischer Jugendlicher reichte, die sich ebenfalls den Einfluessen von Beatmusik und Popkultur oeffneten. Es entstand ein eigener Code, der aus Sprache, Koerpersprache und Aussehen zusammengesetzt ist und die Antihaltung gegen die ,,herrschende" buergerliche Gesellschaft dokumentieren sollte.

Diese Gegenkultur, die in unterschiedlicher Staerke die bisherigen Lebenswelten Jugendlicher durchdrungen hatte, hatte einen ausserordentlichen Vorteil: Sie war international. Ueberall in der industrialisierten Welt finden sich die gleichen Elemente einer globalen Jugendkultur, die sich gegen die Vorstellungen ihrer Elterngeneration von Moral und Autoritaet stellt. Die Internationalitaet ihrer ,,Subkultur" war den jungen Menschen der 60er Jahre selbstverstaendlich bewusst. In den Debattierzirkeln der Neuen Linken wurde sie auch theoretisch untermauert. Wichtiger aber als die theoretische Erklaerung fuer den Gegenentwurf zur buergerlichen Kultur war das Dabei-Sein, oder besser: Das Dagegen-Sein. Denn die Subkultur der Jugend definierte sich nicht so sehr durch die neomarxistische Utopie einer sozialistischen Gesellschaft als vielmehr durch das Ablehnen der bestehenden Verhaeltnisse. Zentral war die Ablehnung jeder Art von Autoritaet, weil diese zu Unterdrueckung fuehre.

Selbstverstaendlich finden sich in den Schriften der Theoretiker der Studentenbewegung zahlreiche kluge Aussagen, in denen die jeweiligen Protestgegenstaende auf der Grundlage eines neu verstandenen Marxismus analysiert werden, der sich von Mao und Marcuse gleichermassen ableitete. Das taeuscht nicht darueber hinweg, dass sich in der trotzigen Antihaltung der Studentenbewegung viel an pubertaerem Verhalten wiederfindet. Die Provokation als Mittel zur Bewusstmachung politischer Misstaende laesst sich hier von der Geschmacklosigkeit als Lust am Schockieren nicht mehr trennen. Gerade das aber war weder typisch deutsch noch typisch studentisch. Hier hatten die Bewegungen der Provos, der Gammler und der Hippies seit Beginn der 60er Jahre von Kalifornien bis Kreuzberg den Boden bereitet. Die Zuspitzung des provokativen Protests auf bestimmte Themen wie den Krieg in Vietnam war die Konkretisierung einer phantasievollen und kreativen, wenn auch weltfremden Gegenbewegung gegen das eigene Elternhaus.

Im Sinne einer vor allem kulturellen Neuorientierung war die antiautoritaere Ausrichtung der Studentenbewegung von entscheidender Bedeutung. Die Vision einer repressionsfreien Geseuschaft fand hier ihren deutlichsten Ausdruck. Um die Idee der Autoritaetsfreiheit rankten sich die Gedanken der Kinderlaeden mit ihrer antiautoritaeren Erziehung ebenso wie die Experimente einer promiskuitiven Sexualitaet zur Befreiung von repressiven Zweierbeziehungen. Dazu gehoerte gleichzeitig auch die Vorstellung einer herrschaftsfreien Universitaet ohne die allesbeherrschende Machtstellung der Ordinarien. Kinderlaeden, Gruppensex und Drittelparitaet sind aber nur Elemente eines viel groesseren Spektrums alternativer Vorstellungen, die sich im einzelnen nicht immer sehr konkret gestalteten.

Gerade in dieser umfassenden Bewegung einer Gegenkultur liegt das verbindende Element der Studentenbewegung, die zu einem bundesweiten Geschehen fuehrte. Sowohl das kulturelle als auch das politische Protestpotential waren schon vor 1967 vorhanden. Die Nachricht vom Tod Benno Ohnesorgs traf daher nicht in eine unvorbereitete Situation hinein, sondern sie potenzierte das, was an Unruhe und Dissens schon latent vorhanden war. Das tat sie allerdings in einem Umfang, den wohl niemand vorhergesehen hatte. Ueber 100.000 Studierende gingen in den Tagen nach dem 2. Juni auf die Strassen. In allen Universitaeten des Landes fanden Veranstaltungen statt, die oft mit Beteiligung der Professorenschaft verliefen. Die politische Bewegung einer kleinen Gruppe von ueberzeugten Marxisten und die soziale Bewegung einer ganzen Generation gingen an dieser Stelle eine Allianz ein.

Der Linksruck der Studentenschaft in Sprache und Ausrichtung wird ueberall deutlich. Er blieb nicht auf die Linke beschraenkt. So hat Walter Jens dem Tuebinger RCDS 1968 bescheinigt, dass er links von der SPD stehe. Katholische Jugendverbaende wie der konservative Bund Neudeutschland gerieten in den Sog der neomarxistischen Gesellschaftsanalyse und gaben sich neue Grundsatzprogramme und bisweilen auch neue Namen, um dem Trend gerecht zu werden. Die Solidaritaet war erstaunlich. Zwar beteiligten sich nur 8% der Studierenden aktiv an den Anti~Vietnam-Demonstrationen und 30% an den Protesten gegen die Notstandsgesetze, aber nach Umfragen waren zwei Drittel aller Studierenden einer Meinung mit den Protestierern.

Sieht man die Studentenrevolte nicht als eine Abfolge politischer Aktionen an sondern als eine soziale Bewegung mit dem Ziel einer kulturellen Revolution, dann klaeren sich viele Fragen. Es erklaert sich z.B. die grosse Akzeptanz der Protestaktionen der SDS-Provokateure, deren antidemokratischen und antiparlamentarischen Ziele keineswegs der Grundueberzeugung der studentischen Mehrheit entsprachen. Es erklaert sich auch, warum zwischen den protestierenden Studierenden und den liberalen und gespraechsbereiten Hochschullehrern oft genug ein genauso unfruchtbarer Dialog zustandekam wie zwischen Studenten und autoritaeren Professoren. Der mangelnden Einsicht in die eher emotionale als rationale Grundmotivation des Protests auf der einen Seite entsprach eine feste Ueberzeugung von der moralischen Ueberlegenheit der eigenen Position auf der anderen Seite. Gestaerkt wurde diese trotzige Intoleranz durch das Bewusstsein einer internationalen Verbundenheit der Jugend gegen die Ignoranz und emotionale Kaelte der Aelteren.

Begreift man die Studentenbewegung als eine bundesweite kulturelle Gegenbewegung, wird allerdings auch klar, warum sie so schnell zerbrach. Da es vielen Sympathisanten mehr um Provokation als um Verwirklichung politischer Ziele ging, war die marxistische Theorie, die ab 1967 die Gespraeche mit Aelteren beherrschte, fuer sie oft nur angelesen, die Ausrichtung an Helden wie Che Guevara eher wild-romantisch als konkret politisch. Daher war es nach dem Wahlsieg von Willy Brandt und dem Beginn der sozial-liberalen Koalition auch kein Problem, sich in diesem Staat als Beamte zu verdingen. Das ist nicht der von Rudi Dutschke als Programm verkuendete ,,Marsch durch die lnstitutionen" sondern das ist eine Art "Sozialdemokratisierung" eines Marxismus, der von linken Intellektuellen schon vorher als ,,angelesene Revolution" verspottet worden ist. Einige, wir wissen es, gingen diesen Weg nicht. Sie glaubten fest an das, was sie in ihren Diskussionsabenden verkuendet hatten, und sie waehlten enttaeuscht den Weg in den Terror. Sie wurden gnadenlose Taeter und waren doch zugleich die eigentlichen Opfer dieser Revolte.

Kommen wir zum Schluss wieder auf den Innenminister mit der mangelnden Revolutionserfahrung zurueck. Versteht man die Studentenrevolte als soziale Bewegung, dann wird auch verstaendlich, warum Herr Boecking und mit ihm viele tausend andere in Deutschland an die kaempferischen Jahre um 1968 mit Wehmut zurueckdenken. Nicht das Faktum der konkreten politischen Aktion ist es, was den "Mythos 68" ausmacht, sondern die Erinnerung daran, dass eine ganze Generation junger Menschen sich an den Versuch machte, aus ihrem inneren Gefuehl heraus gegen alle Konventionen eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Diese positive Grundeinstellung, dieses ,,Prinzip Hoffnung", das so unendlich weit entfernt ist von der abgestumpften Perspektivlosigkeit vieler heutiger Studierender, hat zu einem solchen Mythos gefuehrt. Und in dieser Hinsicht sollte man auch gar nichts dagegen haben. Die Frage von Erfolg oder Misserfolg der Studentenbewegung stellt sich ohnehin nur dann, wenn man die Perspektive auf die politischen Ereignisse verengt. Die Revolte der Studenten als politische Aktion ist an ihren eigenen Widerspruechen klaeglich gescheitert. Die gesellschaftliche Revolution der 68er dagegen ist trotz mancher Verirrungen weder gescheitert noch gelungen. Sie ist vielmehr in vollem Gange.


Text eines Vortrags vor dem Brauweiler Kreis am 14. Maerz 1998 in Bad Waldliesborn

Kommentare bitte an t ombeee at aol.com