Das Interesse an den alltäglichen Abläufen im Leben unserer Vorfahren, an den Bedingungen und Strukturen, die ihr Leben bestimmten, an der Art und Weise, wie sie ihr Leben gestalteten, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Die Frage nach der eigenen Identität verbindet sich in der historischen Perspektive mit der Frage nach der Geschichte des eigenen Heimatortes und seiner Menschen, die in den Geschichtsbüchern mit ihrer Orientierung an Herrscherpersönlichkeiten und politischen Ereignissen oft keine Antwort findet. Die folgenden Seiten sollen hier eine kleine Hilfestellung geben. Die Region, die der Beobachtung des Historikers unterworfen wurde, ist das alte Dekanat Ahrgau, das von der Ahr im Süden bis nach Wesseling im Norden reicht. Es umfaßt damit einen großen Teil des heutigen linksrheinischen Rhein-Sieg-Kreises. Der untersuchte Zeitraum ist die frühe Neuzeit, d.h. das 16. bis 18. Jahrhundert. Einige strukturelle Themen sollen in den Blick genommen werden, so die geographische, kirchliche und politische Einteilung, die Siedlungsformen, die Wohnräume und Treffpunkte der Menschen, die Einwohnerzahlen und Familiengröße, die soziale Schichtung oder die dörflichen Organisationsformen. Daneben geht es auch um alltagsgeschichtliche Fragen wie Arbeit, Kleidung, Essen oder Feiern.
Natürlich werden hier nur einzelne Facetten aus dem bunten und vielschichtigen Bild des rheinischen Dorflebens sichtbar, die noch keine Gesamtschau ergeben. Es soll jedoch nciht zuletzt Aufgabe dieser Studie sein, zu weiterer Beschäftigung mit der bäuerlichen Alltagswelt des Rheinlandes anzuregen, zu ergänzen, zu überprüfen und zu korrigieren, um so dieser Gesamtsicht näher zu kommen.
Der hier untersuchte Raum, das Landdekanat Ahrgau, ist von seinen naturräumlichen Gegebenheiten her zweigeteilt. Der nördliche Teil, begrenzt durch den Rhein im Norden und die Ausläufer der Eifel im Westen, wird durch den langgestreckten Höhenzug der Ville in zwei geographisch ähnliche und fast gleich große Gebiete geteilt, wobei die östliche Hälfte zur Kölner Bucht und die westliche zur Zülpicher Börde gehört.1 In beiden Fällen handelt es sich um Bördelandschaften (Lößebenen), die durch Bruchstufen gegliedert sind. Entlang dieser Bruchkante fließt auf der westlichen Seite die Swist gen Norden, die sich an der oberen Ausdehnung des untersuchten Raumes mit der Erft vereinigt. Im östlichen Teil ist der Rhein der einzige signifikante Wasserlauf. Weitaus rauher als die niederrheinische Bucht ist der südliche Teil des Untersuchungsraumes. Er zerfällt in die Naturräume "Unteres Mittelrheingebiet" sowie "Ahreifel" und wird durch den Lauf der von Südwesten nach Nordosten strebenden Ahr geprägt. Es handelt sich hierbei um Schiefergebirge mit tief eingeschnittenen Fluß- und Bachläufen.
Die geographischen Gegebenheiten beeinflußten entscheidend die kulturräumliche Entwicklung. Im nördlichen Teil, der in der Antike durch drei parallel in nordöstlicher Richtung dem Rhein zustrrebende Römerstraßen durchquert wurde, haben archäologische Untersuchungen eine dichte rurale Besiedlung schon während der Prinzipatszeit belegt, so daß die Entstehung vieler Orte hier auf römische Gehöfte und Siedlungen zurückgeht. Südlich der von Jünkerath (Icorigium) nach Bonn verlaufenden Straße werden die Funde allerdings deutlich geringer, lediglich die Zuflüsse und Ströme von Ahr und Rhein weisen noch Spuren antiker villae auf. Der Grund dafür ist die unterschiedliche Fruchtbarkeit. Der Lößlehm und die Parabraunerdeschicht der Bördelandschaft bilden einen nährstoffreichen Boden, der schon in antiker Zeit Anreiz zur Kultivierung gab. So ist es auch kein Wunder, daß der weitaus größte Teil dieser Landschaft auch in alter Zeit als Ackerland Verwendung fand. Lediglich die Flußtäler von Swist und Erft wurden vorwiegend als Weide benutzt.
Entlang des Ahrtales, am Rheinufer zwischen Remagen und Bonn, weiter dann am Ostrand der Ville entlang bis auf die Höhe von Brühl, wurde im Mittelalter Wein angebaut. Er war vor allem entlang des Rheines ein entscheidender Wirtschaftsfaktor. Am Vorgebirge, d.h. entlang der Ville, ist der Weinbau erst durch den Bevölkerungsschub des 19. Jahrhunderts zurückgegangen, der durch eine größere Nachfrage der nahen Stadtgebiete von Köln und Bonn und durch den Bau der Vorgebirgsbahn eine Verlagerung vom Weinanbau auf die Kultivierung von Gemüse bewirkte. 2
Trotz der intensiven Bebauung schon seit der Römerzeit hatten die Lößebenen der Kölner Bucht sowie der Zülpicher Börde im 17. Jahrhundert nicht das ebenmäßige Aussehen einer flachen Ackerlandschaft, das sie heute kennzeichnet. Vielmehr war das Gebiet von Gehölzen und kleineren Wäldern durchsetzt, von denen heute noch viele Flurnamen Zeugnis geben. Eine geschlossene Bewaldung gab es allerdings schon seit dem frühen Mittelalter nicht mehr. Diese kleinen Waldflächen waren zumeist Allmende, d.h. Flächen, deren Nutzung nicht durch Parzellierungen unterteilt wurden, sondern einer Gemeinschaft von Berechtigten jeweils als Ganzes und ohne Erlaubnis zur Veränderung zustand. Der Waldbestand war eine wichtige Nutzungsfläche, denn er diente zur Fleischerzeugung durch Schweinemast.3
Der vorwiegende Ortschaftstyp im Ahrgau ist das Dorf. An Städten finden sich lediglich Bonn, Rheinbach, Meckenheim (seit 1636) und Ahrweiler auf kurkölnischer sowie - entlang des Rheinufers - die jülichschen Landstädte Sinzig, Unkel und Remagen. Fast alle diese Städte waren weitgehend von Ackerbürgern bzw. Winzern bewohnt, so daß der Typus "Stadt" in dieser Untersuchung völlig im Hintergrund steht. Bonn hingegen, das städtebaulich wie kulturell eindeutig dem Typus "Stadt" zuzuordnen ist, muß gesondert betrachtet werden. In dieser Arbeit findet es daher nur selten Berücksichtigung.
Neben der durch die Kräfte der Natur entstandenen räumlichen Gliederung ist auch die von Menschen geschaffene interessant. Wir haben es dabei mit einer Zweiheit von kirchlicher und weltlicher Einteilung zu tun.
Großräumig betrachtet fällt der Untersuchungsraum kirchlich ins Archidiakonat Bonn, politisch vornehmlich ins Kurfürstentum Köln, aber auch in das Herzogtum Jülich sowie ins Gebiet diverser kleinerer Herrschaften.
Im frühen Mittelalter hatte es noch eine Übereinstimmung beider Gliederungssysteme gegeben, denn der Erzbischof vergab die Dechantenwürde der Einfachheit halber entsprechend der Einteilung des politischen Gebildes Ahrgau.4 Im Verlauf des Mittelalters bildete sich auf dem Gebiet des alten Gaues ein Landdekanat (auch die Bezeichnung "Christianität" war gebräuchlich), das ebenfalls den Namen Ahrgau führte. Entsprechend der naturräumlichen Gliederung war es in eine camera inferior (nördlich von Bonn, östlich und westlich der Ville) und eine camera superior (südlich von Bonn im gebirgigen Gelände des Rheintales, der Ville und der Ahreifel) aufgeteilt.
Eine Änderung innerhalb des Gebietes des kirchlichen Ahrgau-Dekanates gab es erst in der Frühen Neuzeit. Aus dem Pfarrverband der Christanität wurden eine Reihe von Pfarreien ausgegliedert und zu einem eigenen Landdekanat unter dem Namen Bur oder Bonn zusammengefaßt. Über das Datum dieser Ausgliederung herrscht eine gewisse Unklarheit, seit August Franzen in seiner Publikation der Visitationsprotokolle von 1569 aufgrund einer Passage aus dem Protokoll von Friesdorf die Frage aufwarf, ob der decanatus buranus schon zu dieser Zeit bestanden haben könnte.5 Heinrich Schneider hatte in seinem Aufsatz über den Archidiakonat Bonn ein Gründungsdatum vor 1594 angenommen.6 Im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf befindet sich allerdings ein Brief des Koadjutors Ferdinand an den Herzog von Jülich-Kleve-Berg, der beide widerlegt: Ferdinand spricht in seinem Brief vom Archidiakonat Bonn, für das er in seiner Eigenschaft als Koadjutor die Visitation in vollem Umfang auch auf Jülicher Gebiet durchführen will, und er zählt in diesem Zusammenhang die Dekanate des Archidiakonates einzeln auf. Ein Bur-Dekanat ist nicht darunter!7 Das Jahr 1598 bietet uns also für die Ausgliederung des Bur-Dekanates aus der Ahrgauer Christianität einen terminus post quem. Für den terminus ante quem ist es etwas schwieriger, denn erst der 1642 investierte Pfarrer Lambert Pütz von St. Remigius in Bonn läßt sich sicher als Bonngauer Landdechant identifizieren,8 aber die Tatsache, daß bei der Visitation von 1628 die Ahrgauer Pfarrei Mehlem, nicht aber das daneben gelegene Rüngsdorf visitiert wurde, läßt zumindest vermuten, daß es das Bur-Dekanat zu diesem Zeitpunkt schon gab. Jedenfalls waren seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Pfarreien der Stadt Bonn sowie Dottendorf, Eckendorf, Endenich, Ersdorf, Friesdorf, Karweiler, Leimersheim, Lengsdorf, Lessenich, Meckenheim, Nierendorf, Rüngsdorf, Wadenheim und Witterschlick sowie Beuel an der Ahr zu einem eigenen Dekanat zusammengefaßt.
Die politische Einteilung des Untersuchungsraumes war in der Frühen Neuzeit ungleich differenzierter als die kirchliche. Aus der Auflösung der alten Gauverfassung waren im Mittelalter die Ämter entstanden. Die camera inferior lag - bis auf einige Ausnahmen - innerhalb des kurkölnischen Oberamtes Bonn. An das Amt Bonn schloß sich das Amt Godesberg mit dem Gebiet der Burggrafschaft an, das sog. "Drachenfelser Ländchen". Westlich lag das Amt Rheinbach. Lange Auseinandersetzungen zwischen den Fürsten von Jülich und Köln um einen Zugang zu Rhein und Ahr hatten dazu geführt, daß sich jülichsche Besitzungen nach und nach zwischen die kölnischen schoben. So war im Gebiet zwischen den kölnischen Ämtern Bonn und Altenahr ein breiter jülichscher Keil entstanden, die sog. "Grafschaft".9 Dieser Korridor, der mit Kondominaten, En- und Exklaven beider Seiten durchsetzt war, führte zu einer bunten Gemengelage, und die gerade im gebirgigen Südteil des Ahrgau-Dekanates noch vielfach vorhandenen ritterlichen oder klösterlichen Herrschaften taten ein übriges, um der politischen Gliederung des Raumes den Charakter eines Flickenteppichs zu geben. Für die Lebensformen der Menschen waren diese unterschiedlichen Einteilungen sicher nicht ohne Bedeutung, aber in ihrer Alltagswelt, in den Siedlungsformen, der Art zu essen, zu trinken, Geburt und Tod zu erleben usw., zeigen sich kaum Auswirkungen. Hier sind die naturräumlichen Gegebenheiten viel stärker und wichtiger. Diese Alltagswelt soll nun in einer kurzen Skizze deutlicher werden. Sehen wir uns die Menschen und ihre Dörfer also einmal an.
Ein typischer Ort im hier untersuchten Gebiet bestand aus Gehöften, die in den allerersten Besiedlungsphasen des Mittelalters auf abgeteilten Parzellen locker zusammengestanden hatten. Es handelte sich durchgehend um Fachwerkbauten, die in der Regel dem sogenannten "mitteldeutschen Typ" zugehörten: Einraumtiefe Häuser, die der alten Form des nordwesteuropäischen Längshallenhauses folgten. Alle wesentlichen sozialen und kommunikativen Funktionen des Zusammenlebens spielten sich in ein und demselben Raum ab. Das Haupthaus stand im rechten Winkel bzw. parallel zu den Nebengebäuden, die auf diese Weise ein Viereck markierten, dessen offene Seite häufig durch eine Bruchsteinmauer mit Hoftor abgeschlossen wurde. Die Tür des Haupthauses lag in der Regel unter der Traufe zum Hof hin, während der Giebel zur Straße wies.
In vielen Orten läßt sich diese ursprüngliche Bauanordnung noch beobachten, wobei allerdings sehr oft die straßenzugewandte Seite des Hofes mit dem alten Hoftor seit dem 19. Jahrhundert überbaut ist, so daß mittlerweile traufenständige Fronten das Straßenbild beherrschen.10 Früher aber führte die Straße vornehmlich an massiven Mauern und Toreinfahrten entlang. Der Charakter dieser Straßendörfer mit ihren geschlossenen Fronten, die durch das Fehlen der Haustüren in den Straßen etwas Abweisendes hatten, war ganz anders als jener der freistehenden Gehöfte, der dem Hofsiedlungsgebiet des Niederrheines nördlich der Linie Düsseldorf - Erkelenz seine Prägung gibt.11 Variationen des beschriebenen Häusertyps, deren es viele gibt, ändern selten das Grundprinzip des traufenständigen Eingangs, doch erweitern sie den Wohnraum durch Anbau oder Aufstockung zum Anderthalb-, Zweiraum- oder Winkelhaus. Die vorherrschende Bauweise ist eine Ankerbalkenanordnung von Traufe zu Traufe mit firstparalleler Balkenlage, die von einem Steildach überragt wird. Seit dem 18. Jahrhundert wurde das Fachwerk auch vereinzelt durch Massivbauweise ersetzt, wobei der Grundriß erhalten blieb.12
Einen Dorfplatz oder Anger gab es in der Regel nicht. Der Sammelpunkt für die Dorfbewohner befand sich daher zumeist vor der Kirche in der Mitte der Straßenachse, was bei der allgemeinen Anlage der Kirchenbezirke bedeutete, daß man sich auf dem Friedhof versammelte.13 Manchmal gab es daneben auch noch einen Festplatz, auf dem die Schützenwettbewerbe ausgetragen und Kirchweihfeste gefeiert wurden - Traditionen, die bis heute fortleben. Zum kirchlichen Bereich gehörten außerdem das Pfarrhaus sowie die Wohnung des Küsters. Letztere diente häufig als Schulraum. War das nicht der Fall, so konnte sich sogar ein eigenes kleines Schulgebäude finden.14 Sehr oft gehörte mindestens ein Hof im Dorf zu einem Stift, einem Kloster oder einer Abtei. An die Stelle kirchlicher Nutznießer solcher Höfe konnten aber auch adelige Herren oder reiche Städter treten.15 Man bezeichnete alle diese Gehöfte als "Halfenhöfe", d.h. als Pachthöfe, deren Pächter - die "Halfmänner" - ursprünglich die halbe Ernte als Pacht abgaben, eine Regelung, die im Rheinland weit verbreitet war. Gewerblich genutzte Gebäude gab es wenige, entsprechend den Bedürfnissen einer agrarischen Siedlung vornehmlich Schmieden und Getreidemühlen, bisweilen allerdings auch ausgelagerte Produktionsstätten der Wirtschaftsmetropole Köln. Unbedingt zu nennen sind aber noch die Gasthäuser, die den Männern als Ort der Kommunikation dienten. Ihre unmittelbare Nähe zur Kirche als Zentrum des Ortes führte immer wider zu Querelen und kirchlichen Gegenmaßnahmen. Kommunikationsort für die Frauen waren die als "Pütz" oder "Pötz" bezeichneten Brunnen, von denen es mehrere gab, die sich jeweils im Besitz von Nachbarschaften befanden.16
Ein weiterer Begnungsort außer dem Brunnen war der Gemeinschaftsbackofen, zu dem die Frauen des Ortes ihre fertig bereiteten Brotlaibe trugen. Vermutlich war die Nutzung des Backofens in der Kölner Gegend und an der Ahr genauso wie am Niederrhein. Die Männer heizten den Ofen mit Buchenscheiten an und prüften seine Hitze: Wenn man für die Länge eines Vater-unser die Hand hineinhalten konnte, war die Temperatur richtig. Der Ofen wurde dann gefüllt, wobei das letzte Brot ein Kreuzzeichen eingeritzt bekam.17 Diese Backhäuser standen meist an verkehrsgünstigen Stellen, wie z.B. einer Abzweigung oder Verkehrsgabelung. So findet man es in Bölingen bei Bengen.18 Oder sie standen am Eingang des Friedhofes wie in Neukirchen an der Swist.19
Die Menschen des Ahrgau-Dekanats lebten in Straßendörfern, die sich entlang einer Hauptachse hinzogen. Eine Siedlungserweiterung durch Querstraßen war nicht nötig, sie ergab sich allenfalls aus schon bestehenden Wegen zu anderen Orten. Das ist nicht überraschend. Es handelte sich nämlich durchweg um kleine Gemeinden. Die Visitationsprotokolle der kirchlichen Behörden liefern uns hier einen Anhaltspunkt, denn sie geben für alle Orte die Kommunikantenzahlen an. Nach der von Otto R. Redlich aufgestellten Berechnungsformel20 ergibt sich die Bevölkerungszahl, wenn man zur Anzahl der Kommunikanten 25% hinzurechnet. Selbst bei Abweichungen im Einzelfall bekommen wir so einen Annäherungswert, der in der Tabelle im Anhang 1 zu betrachten ist. Wie dort man sieht, bestand ein Ort im Durchschnitt nur aus einigen hundert Einwohnern. Dabei gibt diese Tabelle nur die Verhältnisse im friedlichen und bevölkerungsstarken 18. Jahrhundert wieder. Die Zahlen lassen sich keineswegs auf die davor liegenden Jahrhunderte übertragen. Die Tabelle im Anhang 2 stellt daher die aus den Kommunikantenzahlen errechneten Bevölkerungszahlen derjenigen Orte einander gegenüber, für die Angaben sowohl aus dem 17. wie aus dem 18. Jahrhundert vorliegen.
Bei 16 Ortschaften war es möglich, anhand der bei Fabricius in den Erläuterungen zum "Geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz" für 1668 festgehaltenen Kommunikantenzahlen die Bevölkerungsentwicklung stichpunktartig aufzuzeigen (s. Anhang 3). Die Zunahmen sind in zwei Fällen - Adendorf und Ringen - ganz erheblich, aber durchschnittlich liegt die Steigerungsrate bei ca. 25%. Trotz der starken Schwankungen, die sich in unseren Zahlenbeispielen zeigen, können wir also für das späte 17. Jahrhundert von einer durchschnittlichen Einwohnerzahl von 450 bis 500 Personen ausgehen, und für die Mitte des 18. Jahrhunderts können wir eine Durchschnittszahl annehmen, die etwa ein Viertel darüber liegt. Selbst wenn diese Mittelwerte aufgrund starker Schwankungen zustande kommen, die zwischen 100 Einwohnern in Ramersbach und 750 Einwohnern in Heimersheim/Ahr liegen, so wird doch klar, daß die Gemeinden in jedem Fall ausgesprochen klein waren, bleiben sie doch alle unter 1000 Einwohnern. Die Zahl der Häuser eines solchen Ortes schwankte zwischen 40 (Schwadorf 1743) und 165 (Heimerzheim 1743). Die Größe der einzelnen Familen war allerdings in allen Orten in etwa gleich, wie sich heraustellt, wenn man die errechnete Bevölkerungszahl pro Ort durch die Anzahl der Familien teilt (Anhang 4). Wer der nur errechneten Ausgangszahl nicht traut, kann die Relation auch dadurch herstellen, daß er lediglich die Anzahl der Kommunikanten durch die Anzahl der Familien teilt. Die Aussage ist die Gleiche. Die Zahlen wurden, wie man am Beispiel Vischel sehen kann, auf- oder abgewertet, aber die Grundtendenz bleibt gleich: In der Regel wohnten nicht mehr als fünf bis sechs Personen unter einem Dach, d.h. wir müssen von Kleinfamilien ausgehen, die von den heutigen an Größe nicht wesentlich differieren. Natürlich täuscht die nicht allzu hohe Zahl der Familienmitglieder darüber hinweg, daß die Anzahl der tatsächlich geborenen Kinder einer Familie weit höher lag, als die oben gezeigte Tabelle vermuten läßt. Die Sterblichkeitsziffern bei Säuglingen und Kleinkindern waren auch im Rheinland während der ganzen hier untersuchten Periode ganz erheblich. Dies darf bei der Rekonstruktion von Familiengrößen nicht vergessen werden.
Der rheinische Bauernstand hatte seine Lage seit dem Hochmittelalter allgemein verbessert, die Fronhofswirtschaft (Villikationsverfassung) war weitgehend von der freieren Betriebsform der Rentengrundherrschaft verdrängt worden, auch wenn formal die alte Agrarverfassung "versteinerte" und sich als Organisationsprinzip bis ins Spätmittelalter hinein ernhielt.21 Leibeigenschaft gab es in der frühen Neuzeit westlich der Elbe nicht mehr. Die Bauern eines Dorfes waren persönlich frei, und die überwiegende Mehrzahl von ihnen bewirtschaftete auch eigenen Grund und Boden. Neben den freien Bauern mit Überschußproduktion aus eigenem Besitz gab es im Dorf die Pächter, die schon erwähnten Halfen, die aber keineswegs eine schlechtere ökonomische Stellung innehatten. Der Halbbau (d.h. die Abgabe der halben Ernte) hatte im Mittelalter eine Rationalisierung und Versachlichung des Verhältnisses zwischen Grundherrn und Pächter mit sich gebracht, denn es verteilte das Risiko auf beide Seiten und schuf zugleich Anreize für die Ausdehnung der Produktion. Doch seit die Grundherren sich in der frühen Neuzeit zunehmend von der Landwirtschaft zurückzogen, war der Halbbau mehr und mehr durch eine fixe Pachtsumme ersetzt worden.22 Außerdem setzte sich das System der Zeitpacht immer mehr durch, vor allem dort, wo ehemalige grundherrliche Fronhöfe nicht mehr in Eigenregie geführt wurden. Die Pachtverträge wiesen eine große zeitliche Bandbreite auf, sie konnten für 6, 12, 24, 30, 40, 60 Jahre, auf Lebenszeit, aber auch für zwei oder drei Generationen gelten.23 Dadurch, aber auch durch den Umstand, daß der auf Pacht vergebene Hof in seinem Umfang an Anbaufläche stets gleich blieb bzw. höchstens noch durch Zukauf wuchs, waren die Pächter den Vollbauern mit Eigenbesitz überlegen, die bei jedem Erbfall mit dem Problem der Verkleinerung der Hofstellen durch die Regelung der Realerbteilung zu kämpfen hatten.
Da die Halfenhöfe die größten im Ort waren, kamen die Pächter in der sozialen Hierarchie des Dorfes an oberster Stelle. Sofern der Grundherr noch im Ort lebte, war sein sozialer Rang höher und sein dadurch bedingtes Auftreten herrschaftlicher als das des reichsten Halfen, doch da die Dörfer häufig in den ehemaligen Villikationsverband eines Klosters oder Stiftes gehörten, waren viele Halfen die ungekrönten Könige in ihren Dörfern. Die für sie auch gebräuchliche Bezeichnung "dicke Bauern" spricht für sich.24
Die meisten Bauern im Dorf waren jedoch keine Pächter, sondern Eigentümer ihrer Hofstellen, die durch die Aufweichung der Villikationsverfassung und die von der Kirche durchgesetzten Erblichkeits-Bestimmungen allmählich aus dem Grundbesitz des Herrn in das Eigentum der bäuerlichen Familien übergegangen waren. Schon die fränkische Aufteilung des Fronhofsverbandes hatte den einzelnen abhängigen Bauern lediglich eine Hufe Land (= 30 Morgen) zugesprochen.25 Da im Rheinland die Realerbenteilung galt, verringerte sich der Umfang dieser Besitzungen im Laufe der Zeit.26 Die daraus resultierenden chaotischen Besitzverhältnisse hatten zum Aufbau der Landgemeinde als neuer Organisationsform geführt, in der die landbesitzenden Bauern die Angelegenheiten ihres Alltagslebens in Selbstverwaltung regelten.27
Viele Bestimmungen im Zusammenhang mit Unterhaltspflichten bzw. Stellenbesetzungsrechten, die auch in dieser Arbeit vorkommen werden, geben von den Rechten der Gemeinde Zeugnis. Dennoch blieben die Hofstellen klein, und die Besitzungen der einzelnen Bauern waren weit verstreut. Diese zinsbäuerlich zu Eigentum besessenen Güter machten den Großteil der Höfe in den Dörfern des hier untersuchten Raumes aus. Je nach Lage, Alter und anderen strukturbildenden Faktoren war die Verteilung jeweils unterschiedlich, doch das Grundmuster sah stets gleich aus. Es gab einige wenige großbäuerliche Halfen und viele kleinbäuerliche Eigenbesitzer.
Neben den Pächtern und den Eigentümern gab es als dritte Gruppe von 'Dorfbewohnern noch die landlose Schicht, also das Gesinde, die Tagelöhner und die nicht von regelmäßiger Arbeit lebenden Armen. Diese unterbäuerliche Schicht wuchs durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen im 16. Jahrhundert in ganz Europa an, aber während sie z.B. in Spanien zu einer Proletarisierung der Landbevölkerung bis zu 80% cführte, erreichte sie im untersuchten Gebiet nicht mehr als 30-40%.28 Die Ursache dafür ist die schon erwähnte Verteilung. Nur die großen Höfe der Halfen bzw. der Grundherren verfügten über eine größere Anzahl an Personal. Die meisten Kleinbauern bewirtschafteten ihr Gut als Familienbetrieb. Da sich im kurkölnischen Oberstift weder Handwerk noch den Städten zuarbeitende Produktionen ansiedelten, blieben die Unterhaltsmöglichkeiten für Landlose, und damit auch ihr Vorkommen im Dorf, relativ gering.29
Die Geschlossenheit der dörflichen Welt wird dokumentiert durch die Selbstauffassung der Ortsbewohner, die sich in den Visitationsprotokollen gegenüber Fremden als "Nachbarn" bezeichnen, wobei mit diesem Begriff die ganze Ortsgemeinschaft gemeint ist. "Nachbarschaft" war tatsächlich das vorherrschende Organisationsprinzip der hier untersuchten Orte, doch meinte sie in der Regel zunächst einmal einen enger beschriebenen Kreis, nämlich im Norden des Untersuchungsraumes - bis auf die Höhe von Bonn - die Bewohner der drei jeweils zur Rechten und zur Linken folgenden Häuser, im Süden dieses Raumes die "Rotte", eine aus dem Hochmittelalter stammende feste Organisationsform, die im Zusammenhang mit der Ortsverteidigung entstanden bzw. vom Oberherren eingerichtet worden ist.30 Die Ordnung "drei rechts - drei links" der Kölner Bucht und der Zülpicher Börde, nach Matthias Zender jüngeren Datums als die Rottenorganisation, ist ein Ausfluß der topographischen Anordnung des Straßendorfes: "Nachbarschaft" - als die mit bestimmten Pflichten (z.B. beim Begräbnis) versehene organisierte Gruppe - sind nur die Anrainer auf der eigenen Straßenseite. Die Leute vom Hof gegenüber, mit denen man womöglich noch viel engeren Kontakt pflegte, fielen nicht darunter.31 Nach außen hin, gegenüber Amtmann oder Landdechanten, bezeichneten sich auf einmal alle als "Nachbarn", was zeigt, daß sehr wohl eine Identifikation mit der Ortsgemeinschaft und eine gewisse Abgrenzung gegen die Außenwelt vorhanden war.
Trotz der allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts waren die rein agrarischen Voraussetzungen für den rheinischen Bauernstand insgesamt gut. Daß es dennoch zu wirtschaftlicher Not und Bedrängnis kam, hat andere Gründe. Einmal gab es aufgrund der klimatischen Verhältnisse der sogenannten "kleinen Eiszeit" immer wieder einmal Mißernten durch nasse und zu kalte Sommer, die bei der geringen Überschußproduktion der damaligen Agrarmethoden schnell zu lebensbedrohlichen Ernährungskrisen werden konnten, zum anderen aber litten die Dörfer seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ununterbrochen unter den Einwirkungen der verschiedenen Kriege, die in diesem Gebiet ausgetragen wurden. Die Mordbrennereien und Verwüstungen durch durchziehende oder biwakierende Soltadeska wirkten sich in zweierlei Hinsicht katastrophal für die Bauern aus. Einmal verloren sie oft genug Hab und Gut durch Plünderungen, oder die Ernte verfaulte am Halm, weil sich niemand aufs Feld wagte; genauso aber konnte es geschehen, daß die Bauern unbehelligt vom Kriege eine gute Ernte eingebracht hatten, um dann feststellen zu müssen, daß sie auch ohne eigene Gefährdung Opfer der Kriegsfurie werden konnten: Mal gab es nicht genug Käufer für die Ernte, mal waren die Transportwege zu gefährlich geworden. Noch nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden derartige Auswirkungen spürbar, als gute Sommer eine große Getreideernte einbrachten, der Getreide- und der Grundstückspreis aber wegen der Entvölkerung der Städte und Dörfer einen Tiefstand erreicht hatten, während aus dem gleichen Grund wegen Mangel an Arbeitskräften die Gesindelöhne drastisch angestiegen waren. So kam mancher Bauer auch ohne Brandschatzung an den Bettelstab. Im brandenburgischen Kleve mußte die Regierung eingreifen, um durch Sonderverordnungen die größte Not der Bauern zu lindern.32
Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte die wieder angestiegene Bevölkerungszahl trotz weiterhin anhaltender Kriegsauswirkungen eine stärkere und kontinuierlichere Nachfrage zur Folge. Preisstabilität war auch dadurch noch nicht erreicht, doch wechselten die Hoch- und Tiefpreise jetzt so schnell, daß Ausgleiche von einem Jahr aufs andere möglich waren. Die das ganze 16. Jahrhundert über zu beobachtende Verteuerung des Roggens fand im 18. Jahrhundert keine Fortsetzung. Die Marge von ca. 200 Albus pro Malter Roggen auf dem Kölner Getreidemarkt wurde erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts leicht überschritten. So gab die Gesamtentwicklung den Bauern dennoch wieder eine sichere Existenzgrundlage.33
Allerdings waren und blieben die meisten rheinischen Bauern von einem ausreichenden Getreidepreis abhängig. Dazu hat auch beigetragen, daß diese nicht bereit waren, Erntekrisen im Getreideanbau durch die Einführung modernerer Agrarmethoden, z.B. durch eine Erweiterung der Fruchtpalette, zu begegnen. Vielfach wurden Versuche zur Verbesserung der Bewirtschaftung schon durch die häufige Kriegsgefahr unterbunden. Sie machte die Bauern nicht williger, sich auf Experimente einzulassen, auch wenn das eigene Land vom Krieg halbwegs verschont blieb. Erst recht weigerten sie sich, neue und bisher noch nie betreute Pflanzen feldmäßig anzubauen.34
Weitaus entscheidender waren aber die vielen durch das Herkommen bestimmten Hemmnisse wie z.B. die Weiderechte auf Wiesen, Brache oder Stoppelfeldern, die eine zweite Heuernte, eine Klee-Ernte oder den Anbau einer anderen Frucht nach der Art der sogenannten "erweiterten Dreifelderwirtschaft" (mit Brache erst im fünften oder sechsten Jahr) verhinderten. Im Unterschied zu anderen Gebieten Deutschlands hatten die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges den rheinischen Raum nicht in einem solchen Maß erfaßt, daß durch Wüstungen und Entvölkerung ein ausreichend hoher Druck entstand, um diese Hindernisse zu überwinden. Ein Beispiel ist der Kartoffelanbau. Während er in der Pfalz relativ früh heimisch war, drang er ins Rheinland erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Der Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Betroffenheit durch den Dreißigjährigen Krieg, Der rheinische Raum gehörte zu den Gebieten Deutschlands, die von den Verwüstungen des langen Krieges relativ wenig heimgesucht worden waren. Zwar gab es auch in Kurköln und in den vereinigten Herzogtümern Verluste von bis zu 30% unter der Bevölkerung, meist durch Seuchen hervorgerufen, doch war das noch verhältnismäßig wenig im Verhältnis zu den weitgehend entvölkerten Gebieten etwa der Pfalz, Württembergs oder Thüringens, wo die Bevölkerungsverluste mehr als 50% betrugen.35
Die Agrartechnik des Untersuchungsraumes blieb also mit Ausnahme der Einführung unbedeutender technischer Neuerungen insgesamt auf dem Stand des späten Mittelalters stehen. Der erwirtschaftete Ertrag war daher in der Regel so gering, daß nach Abzug der fälligen Abgaben, von denen vor allem die kirchlichen drückend waren, nur noch ein geringer Überschuß auf dem städtischen Markt zu Geld gemacht werden konnte. Da das zur Deckung der nicht nahrungsbezogenen Bedürfnisse erforderliche Geld also knapp war, waren die Bauern darauf angewiesen, soviele dieser Bedürfnisse wie möglich durch Herstellung eigener Produkte zu befriedigen. Viele Dinge, die heutzutage im Gefolge einer alternativ orientierten Lebensführung zu hoher Wertschätzung gelangt sind, wie Holzpantinen, selbstgefertigte Behältnisse oder grobe, selbstgewebte Kleidung, sind also von ihrem Ursprung her als Resultate einer schlecht organisierten und ertragsarmen Agrartechnik anzusehen.
Über die Bekleidung der ländlichen Bevölkerung erfahren wir etwas aus einem Bericht des Pariser Parlamentsrates Maximilian Misson, der 1687 auf einer Reise auch das Bonner Land berührte:36
"Ich habe auch eine seltsame Tracht an denen Bauern und sonderlich ihren Weibern allhier gemerket; auf der Seite von Bonn und Rheindorf tragen sie nichts als ein klein Häubgen von farbigem Zeuge mit einer Galone von anderer Farbe eingefaßt; die Haare sind eingeflochten und hängen hinten lang herab; sie schürzen sich ungemein hoch und haben einen ziemlich breiten Riemen, womit sie ein greulich Gepluster um sich herum kriegen, und machen, daß der Rock nicht gar viel unter die Knie geht." Ähnlich schmucklos war die Tracht der Männer. Sie bestand aus Kniehosen (meistens aus Leder gefertigt), dazu kamen ein grobgeschnittener Kittel, lange Strümpfe und ein Paar Schuhe, Rinken genannt. Die Rinken waren mit kupfernen Schnallen versehen, doch wer es sich leisten konnte, befestigte sich am Sonntag Silberschnallen daran.37
Die wichtigste Feldfrucht war der Roggen. Obwohl von seinem Nährwert her etwas minderwertiger als Weizen38, war er in ganz Mitteleuropa als Brotgetreide weit verbreitet. Im Rheinland stellte er das Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung dar. Der Umsatz an Weizen ging dagegen an den Kölner Märkten seit Beginn des 16. Jahrhunderts immer mehr zurück: 1531 betrug der Anteil des Weizens am Verkauf aller Getreidesorten noch 28,1%, 1591 waren es noch 20,7%, 1630 15,2% und 1681 nur noch 10,1%.39 Im Pestjahr 1666 wurden in Köln gar nur ganze 13 Malter Weizen (1,8% der Gesamtmenge) verkauft, eine Zahl, die belegt, daß dem Weizen nicht der Charakter eines Grundnahrungsmittels zukam, so daß man auf ihn in einer Krisensituation am leichtesten verzichtete. Hafer und Gerste, die ebenfalls in Köln umgeschlagen wurden, spielten mengenmäßig eine untergeordnete Rolle, doch auch ihr Umsatz entspricht dem Kurvenverlauf beim Weizen.
Die Erwähnung von Roggen und Weizen als Speisegetreide führt uns zu der Frage, wie sich die Ernährung der hier betrachteten Bevölkerung überhaupt zusammensetzte. Zunächst einmal können wir annehmen, daß zu Beginn des 16. Jahrhunderts der Fleischkonsum auf dem Lande noch in mittelalterlicher Weise ganz beträchtlich war. Der geschätzte Jahresverbrauch lag mit 100 Kilo pro Kopf um 40% höher als der des heutigen Bundesbürgers.40 Man aß allerdings alles, was an einem Tiere überhaupt genießbar war, Kopf, Füße, Augen, Innereien usw. Auch war die Palette des verzehrbaren Getiers und Geflügels größer als heute, so aß man junge Stare, Auerhähne, Wildgänse, Rheinenten, Reiher oder Störche ("...da brat´ mir einer einen Storch!" ist heute nur noch eine Redensart, doch im 16. Jahrhundert konnte es gut als Aufforderung verstanden werden). Schon in den Carmina Burana findet sich ja das Klagelied des gebratenen Schwanes. Auch Hasen und anderes Kleinwild, dessen ein Bauer habhaft werden konnte, ergänzten den Speisezettel. Dazu gab es dann Gemüse: "Wenn der Bauer einen Hasen fanget, kocht er ihn mit Rüben" heißt es in einem Buch aus dem Jahre 1598.41
Wichtigster Fleischlieferant aber war das Schwein. Die Schweinemast geschah nicht wie heute durch Stallhaltung, sondern durch Auftrieb ganzer Schweineherden in die Wald-Allmenden. Manfred van Rey hat für Morenhoven diese Schweineauftriebe näher untersucht und festgestellt, daß von 1567 bis 1624 zwischen 200 und 500 Schweine pro Jahr zur "Ecker" in den Morenhovener Gemeindewald getrieben wurden. Die Eckerzeit (Ecker = Baumfrüchte, d.h. in erster Linie Eicheln, aber auch Bucheckern) dauerte zwischen fünf und elf Wochen und begann in der Woche nach St. Michael (29.9.).42 Der Schweinefleischkonsum in Morenhoven dürfte also um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert nicht unbeträchtlich gewesen sein.
Als Gemüse fanden neben den verschiedenen Arten von Rüben vor allem diverse Kohlsorten Verwendung. Zu den Festtagen gab es viel Fleisch und wenig Beigemüse, an normalen Arbeitstagen war der pflanzliche Anteil weitaus höher, und das Fleisch wurde zumeist mitgekocht oder untergemengt. Die allgemeine Teuerung des 16. Jahrhunderts brachte einen Rückgang des Fleischverzehrs mit sich, der den Anteil an Blatt- und Wurzelgemüse bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer größer werden ließ. Diese Tendenz, die überall in Europa auftauchte, setzte sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hin fort,43 doch gehörte der nordwestdeutsche Raum dank der guten Versorugung durch friesisches und dänisches Rindfleisch zu den Gebieten, in denen sie sich noch am wenigsten bemerkbar machte.
Von weitaus höherer Bedeutung als alle übrigen Nahrungsmittel war das Getreide. Dabei handelte es sich, wie schon gesagt, vor allem um Roggen und in zweiter Linie um Weizen. Roggenbrot, mit Sauerteig aus grob geschrotetem Korn hergestellt (sog. "Schwarzbrot"), bildete die Ernährungsgrundlage für Bauern und einfache Bürger. Dieses Brot hatte eine so harte Kruste, daß es mit einem speziellen Messer geschnitten wurde, dessen überlanger Griff erlaubte, den ganzen Arm zur Verbesserung der Hebelwirkung einzusetzen. Von den Niederlanden aus verbreitete sich im 16. Jahrhundert die Sitte, Scheiben dieses Schwarzbrotes mit Butter zu bestreichen und als Beilage zu den Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Außerdem fand Getreide als Grundstoff für die Herstellung von Grütze oder Brei Verwendung, als warme Hafer-, Gersten- oder Buchweizengrütze zum Frühstück, als herzhafte Beilage zur Hauptmahlzeit oder gesüßt (Hirsebrei) zur Abrundung eines festlichen Essens. Erst die Verbreitung des Kaffees hat für die Verdrängung des Getreidebreis am Frühstückstisch gesorgt,44 doch scheint dieser sich heutzutage unter der Bezeichnung "Müesli" sein Reich zurückzuerobern.
Getreide in seiner verarbeiteten Form als Brot hatte in der Ernährung eine zentrale Stellung. Die hohe Bedeutung des Brotes kommt auch in den sogenannten "Gebildebroten" zum Ausdruck, die für besondere Festtage gebacken wurden. Derartiges Festtagsgebäck bestand im Gegensatz zum Alltagsbrot aus Weizen, welcher meistens zu einem Hefeteig verarbeitet und dann zu besonderen "Gebilden" geformt wurde. Anlässe für derartige Brote waren Neujahr, Fastnacht, Ostern, die Heiligenfeste Martin und Nikolaus oder Weihnachten. Einige dieser Traditionen bestehen bis heute fort.
Das im untersuchten Raum bevorzugte Neujahrsbackwerk war (und ist) die Brezel,45 wobei der Jahresbeginn natürlich erst nach 1691 durch Verordnung des Papstes Innozenz XII. auf den 1. Januar fiel. Neujahrsgebildbrote konnten also im 16. und 17. Jahrhundert durchaus auch mit Nikolaus-, Weihnachts- oder Dreikönigsbroten zusammenfallen. Gemeinsam ist allen zum Jahresbeginn gebackenen (und in der Regel verschenkten) Broten die Bedeutung des Glücksbringens und der Bezug auf alte Vegetationsriten, die Hoffnung also auf eine gute neue Ernte.46 Auch Fruchtbarkeitssymbolik, die sich schon in Broten der Antike findet, dürfte im vom natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten getragenen Leben der Bauern eine Rolle gespielt haben, doch existierte sie in der frühen Neuzeit wohl eher unterschwellig und war durch christliche Symbolik überformt.47
Die heute zur Weihnachtszeit so weit verbreiteten Spekulatius gab es in der frühen Neuzeit am Rhein noch nicht, wohl aber schätzte man zu Weihnachten oder Nikolaus rund um die Ahr die sogenannten "Hirzen" (ursprünglich von Hirze = Hirsch), Brote in Tiergestalt oder als Teigmännchen.48
Brotgaben, zumeist in Form von Weizenwecken, gab es auch bei Beerdigungen. Vielfach verband sich die Abgabe von Stuten an die Kinder bei Sterbelagern oder Begräbnissen mit der Auflage, für den Sterbenden bzw. Toten bestimmte Gebets- oder Prozessionsleistungen zu erbringen. In Lessenich z.B. gab es die Verpflichtung, für das gute Brot zu den sieben Wegekreuzen der sog. "Sieben Fußfälle" zu ziehen und dabei unablässig für die Seele des Sterbenden den Rosenkranz zu beten. Auch in Muffendorf, Hersel und Wesseling gab es entsprechende Bräuche.49
"Das 16. und 17. Jahrhundert sind gegenüber anderen Jahrhunderten nicht nur als Zeitraum des Essens und Trinkens, sondern mehr noch der Spiele, geselligen Vergnügungen und Feste gekennzeichnet."50 Das zeigt sich natürlich auch in den Visitationsprotokollen des Rheinlands. Zur Spiel- und Feierkultur gehörten die sonntäglichen Vergnügungen des Armbrust- oder Büchsenschießens, des Tanzens, Kegelns, Ball- oder Kartenspielens,51 aber auch alle Darbietungen karnevalesker Art, also Mummenschanz und Schauspiel an St. Martin, Dreikönig, Fastnacht, bei Prozessionen oder Wallfahrten etc. Zu diesen und anderen in der Öffentlichkeit stattfindenden und für alle offenen Veranstaltungen kamen noch die privaten Feste hinzu, also Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse, ohne daß Charakter und Teilnehmerkreis wesentlich differiert hätten. Das Leben spielte sich nun einmal nicht in verschiedenen, von einander gertrennten Sphären ab, etwa dem öffentlichen und dem privaten Bereich oder der Arbeitswelt und der Freizeitwelt. Der Begriff der Arbeit, wie wir ihn kennen, entwickelte sich erst im Verlauf der Neuzeit. In ihren ersten Jahrhunderten sah man Arbeit und "Freizeit" noch als eine Einheit an, wobei die Arbeitswelt den Rahmen abgab für Geselligkeiten und Vergnügungen. "Arbeit und Freizeit waren nicht von einander getrennt, beide, Feste bzw. Spiele und Arbeit bestimmten den sozialen Alltag des Volkes."52
Die Feste und das sich darum herum rankende Brauchtum waren in der frühen Neuzeit keineswegs unumstritten. In der Auseinandersetzung der kirchlichen und der weltlichen Obrigkeit mit den Landbewohnern über die Einführung einer erneuerten katholischen Frömmigkeit, die man heute als "Konfessionalisierung" bezeichnet,53 war gerade das Brauchtum häufiges Ziel kirchlicher Angriffe. Viele Elemente der Feste und Feiern entsprachen zu wenig der nachtridentinischen Vorstellung von einem gesitteten, frommen und gottgefälligen Leben, als daß sie hätten toleriert werden können. An einigen Festbräuchen läßt sich dies exemplifizieren.
Wenden wir uns zunächst der Totenwache zu. Der Begriff "Fest" mutet für sie ein wenig makaber an, aber diese Veranstaltung zeigt typische Elemente des Festbrauchtums, wie sie von Jesuiten, Generalvikaren und anderen Kirchenreformern immer wieder bekämpft wurden. Im 16. Jahrhundert erreichte in Adelskreisen der für das Begräbnis betriebene Prunk einen Höhepunkt.54 Bei den Bauern war die Totenfeier nicht durch Prunk, dafür aber durch ausschweifende Schmauserei gekennzeichnet.55 Mehrfach stellte der Kölner Generalvikar Paul Außem anläßlich einer Visitationsreise im Jahre 1665 "excessus" (Ausschweifungen) fest, die nicht am Tage der Beerdigung, sondern am Tag davor, während der Totenwache, stattfanden. Das war für kirchliche Obrigkeiten um so störender, als in der Köln-Bonner Bucht der/die Tote im Chor der Pfarrkirche aufgebahrt wurde; die Totenwache fand also nicht im Sterbehaus, sondern in der Kirche statt. Da hierbei aber keineswegs meditatives Schweigen, sondern mehr oder weniger fröhliches Zechen die Atmosphäre prägte, vertrug sich der Brauch der "dodenwachten" weder mit der Sakralität des Ortes noch mit der religiösen Weihe einer christlichen Totenfeier. 56
Auch bei anderen Feiern und Festzeiten, etwa zu Pfingsten, Dreikönig oder Erstem Mai, begegnet uns der Kampf der Kirche gegen nächtliches Brauchtum. Roger Chartier, der in einem Überblicksaufsatz die Festkultur des Volkes in Frankreich ausgewertet hat, spricht vom Bemühen der Kirche, die Kontrolle über die Zeit zu bekommen. Das ganze Jahr soll christlich geprägt sein und keinen profanen Festrhythmus haben, und auch der ganze (Fest-)Tag soll im Zeichen der Kirche stehen: "Der Kampf um die Kontrolle der Zeit erstreckt sich auch auf den Tagesablauf, weil die Kirche unablässig bemüht ist, nächtliche Vergnügungen ebenso wie die ihnen zugrunde liegende Vorstellung zum Verschwinden zu bringen, nach welcher der Tag der Kirche gehört, die Nacht aber dem Volk."57
Auch die Taufe gehört zu den mit Brauchtum verbundenen kirchlichen Festanlässen. Im Moselland war dies eine reine Angelegenheit der Frauen, d.h. der Nachbarinnen, von der alle Männer ausdrücklich ausgeschlossen waren.58 Im Köln-Bonner Raum hatte sich dagegen eine Mischform entwickelt, denn es gab einerseits die Taufe, an der die Verwandten sowie wichtige Persönlichkeiten des Ortes beteiligt waren, und auf der anderen Seite eine Feier der Nachbarinnen, die sich mit der Aussegnung der Wöchnerin verband. Beidem wollten die Kölner Diözesanstatuten des Jahres 1662 steuern. Sie verboten einmal ausdrücklich Trinkgelage bei der Tauffeier und zum anderen jeglichen Aufwand bei der Feier der Purifikation der Wöchnerin.59 In diesen Zusammenhang gehört natürlich auch die nachdrückliche Beschränkung der Taufpaten auf einen Mann und eine Frau. Zu den theologischen Bedenken der Ausweitung der geistlichen Verwandtschaft, die bei späteren Verheiratungen Schwierigkeiten schaffen konnte (und beständig schuf), kam hier die Sorge der Obrigkeit vor zu ausschweifenden Feiern des Volkes, denn eine größere Anzahl Paten (wobei die Regel gilt: je mehr, desto hochrangiger) zog eine größere Dimension des Festes nach sich. Kennzeichen des von der Elitenkultur vermittelten neuen Lebensideals war aber nicht Ausschweifung, sondern Mäßigung.60
Zum selben Zeitpunkt, als der Generalvikar Aussemius die Ausschweifungen bei den Totenwachen bekämpfte, erging im Namen des Erzbischofs Max Heinrich eine Verordnung, die bemängelte, "daß hin und wieder in hiesigem Unserem Ertzstifft von den jungen leuthen, knechten, und mägden anstellende May, Pfingst= und fastnachts spiel, und dabei frühe und späth vorgehendes fressen und sauffen, auch tanzen und springen, jautzen und unzüchtige gesäng, uns waß sonsten dabei für untugent, undt anreitzung verübt wirdt, ernstlich verbotten" worden war, daß sich jedoch ärgerlicherweise niemand an die ergangenen Verbote halte.61
Pfingsten war, wie uns der Text des Edikts verrät, schon seit alter Zeit in der Festkultur des Volkes mit karnevaleskem Treiben verbunden, das sich vom Martinstag bis in die nachösterliche Zeit hineinzog.62 Das bis ins !6. Jahrhundert hinein übliche Treiben mit Mädchenlehen war in den meisten Orten im Verlauf des 17. Jahrhunderts aus dem Pfingstbrauchtum verschwunden. Bisweilen hat es sich aber noch bis heute gehalten. Der Ärger der Kirchenleitung hat im Rezeß für Hersel 1663 seine Spuren hinterlassen: "Wir verbieten auf das strengste", schreibt Generalvikar Paul Außem, "daß künftig den Junggesellen, die in der Nacht zu Pfingsten in der Pfarrei umherschweifen und verschiedene Ausschweifungen begehen, das Sammeln von Eiern gestattet werde."63 Ob sich der im Edikt der nächtlichen Jugend- und Gesindefeiern, verbunden mit "Rottieren und Umherschwärmen"64 in der frühen Neuzeit gebildet hat, oder ob er den Überrest früheren Brauchtums darstellt, kann hier nicht entschieden werden. Wichtig ist aber, daß die oben erwähnte Trennung (tagsüber Feier der Kirche, nachts Feier des Volkes) sich in der Pfingsfeier wiederfindet. Das heißt nicht, daß am Tage keine Belustigungen stattfänden, denn im o.g. Edikt heißt es, daß die Knechte "des tags aber mit sackspfeiffen, und anderem spiel, die fuck (wie sie es nennen) jagen", was auf ein karnevaleskes Lärmspektakel hindeutet. Ebenso ärgerlich war für die Obrigkeit, daß "die knechte und mägde an den heyl. Pfingstfeyrtägen sich in den wirtzhäusern versamblen, die mägde die kost, die knechte aber den trank beytragen, und dabei biß an den hellen morgen allerhandt muthwillen thuen."65
Ein Resumée am Ende dieser Untersuchung zu ziehen, ist nicht möglich. Der Blick auf die Alltagswelt unserer Vorfahren kann immer nur flüchtig sein und wird immer nur einige Aspekte aus einer Vielzahl von möglichen erfassen. Allein, schon aus methodischen Gründen konnte der Bogen hier nicht weiter gespannt werden, weil das zugrundegelegte Material, die Visitationsberichte des 17. und 18. Jahrhunderts, für andere Bereiche des Zusammenlebens nur ungenaue Aussagen möglich machen. Sollten zum Schluß Fragen offen geblieben sein, so wäre zu wünschen, daß die Seiten dieses Aufsatzes die Lust und die Neugier geweckt hätten, weiter in die "verlorenen Lebenswelten" unserer eigenen Vorfahren einzudringen und uns so schließlich selber besser zu verstehen.
Dieser Text ist erschienen in den "Heimatblättern des Rhein-Sieg-Kreises" 60/61 (1992/93). Dort sind auch die Fußnoten und die Anhänge mit den Übersichten über Einwohnerzahlen enthalten. Wer mit mir über den Text diskutieren will oder genauere Angaben braucht, sende mir eine e-mail: tombeee@aol.com