Der Kölner Dom. Kulturgeschichtliche Impressionen

von Thomas Becker

Vortrag  im Rahmen der Veranstaltung "DomStadt" der Thomas Morus-Akademie Bensberg im Kölner Dom am 29.10.2001


mit Dank an Heidi Krüger und ihre Eltern für die wertvollen Gedanken zum Inhalt und zur Botschaft dieses Textes


Über den Ort, an der wir uns heute befinden, meine Damen und Herren, kann man in der Tat eine Geschichte der Kultur und - vor allem - des Kultus schreiben. Schon zu den Zeiten, als die Christen eine kleine verfolgte Minderheit im römischen Reich waren, haben die Einwohner Kölns, die in der Nähe der heutigen Domplatte wohnten, hier an dieser Stelle ihre Heiligtümer gehabt. Der erste Kirchenbau, den der Bischof Maternus errichtete, erstand auf den Fundamenten dieser heidnischen Tempel. Die Wissenschaft nennt diese Kirche den "ältesten Dom", um ihm vom "alten Dom" zu unterscheiden, der als monumentales Bauwerk in einer Länge von mehr als 100 Metern mit einem ebensolangen Atrium davor in der Zeit der Karolinger entstand. Das alles werden Sie vielleicht wissen, und wir wollen auch nicht weiter dabei verweilen, denn um den ältesten und den alten Dom, um die spätantiken und romanischen Bauten mit ihrer raumgreifenden langgestreckten Bauweise und ihren erdverbundenen runden und harmonischen Formen soll es gar nicht gehen. Viel lieber will ich Ihren Blick richten auf den heute noch sichtbaren Dom in seiner früheren unfertigen Gestalt. Den gotischen Dom also, der heute wie ein spitzer Doppelpfeil in den Himmel zeigt, auf Gott hin und auf die Ewigkeit.

Das war freilich nicht immer so. Sie wissen alle, daß der Dom seine heutige gotische Gestalt mit der unverwechselbaren Doppelspitze erst im zweiten deutschen Kaiserreich erhielt und nicht unter den Staufern, sondern unter den Hohenzollern seine Vollendung erfuhr. Aber auch wenn der gotische Dom jahrhundertelang eine Bauruine war, so wurde doch durch den schon im 13. Jahrhundert fertiggestellten Chor das Programm sichtbar, das dem Gesamtbau zugrundeliegen sollte: Man wollte eine Stadt bauen, mit Giebeln, Mauern, Türmen und Gängen, die das himmlische Jerusalem symbolisieren sollten. Wie in Reims, Straßburg, Mailand, Freiburg oder Chartres wollten auch die Kölner den Himmel auf die Erde holen. Was ihnen dabei nicht klargeworden ist: Indem sie ihr ehrgeiziges Projekt in Angriff nahmen, veränderten sie die Erde selber.

Köln liegt, wie wir alle wissen, in einer weiten Ebene, die im Halbrund von den Ausläufern verschiedener Mittelgebirge gesäumt wird. Unübersehbar war seit der römischen Kaiserzeit die Ausdehnung der alten Stadt Köln in dieser Ebene geworden. Im Mittelalter wuchs diese Stadt mit bis zu 40.000 Einwohnern zu einem für damalige Verhältnisse gigantischen Gebilde heran. Aber diese weit ausgedehnte Stadt lag doch für einen Beobachter, der etwa an den Hängen des Vorgebirges oder des Bergischen Landes stand, flach ausgestreckt in der Ebene, auch wenn der berühmte Kranz der romanischen Stifts- und Klosterkirchen ihr so etwas wie eine mittelalterliche "Skyline" gab.

Da nun erhob sich - wenige Jahre, nachdem man die Gebeine der Heiligen Drei Könige in die Stadt gebracht hatte, die man nun mit einem ebenso prächtigen steinernen Reliquiar umgeben wollte, wie es die Franzosen mit der Sainte Chapelle für die Dornenkrone Christi getan hatten - da nun erhob sich allmählich mitten in der Ebene ein Berg. Enorm und unübersehbar wuchs er empor. Nun gelangte dieses Gebilde vor dem Ende des 19. Jahrhunderts nie zu jener charakte-risti-schen Form, die wir heute von denselben Hängen erblicken können, wo die beiden spitzen Türme der Westfassade weit ins Land grüßen. Aber gerade dadurch wurde ja der Charakter des Bergförmigen noch unterstrichen. In einer Zeit, in der ein dreistöckiges Haus schon fast ein Hochhaus war, ragte die kühne Wölbung des Chores weit auf und erhob sich hoch über die Stadtmauer und alle anderen Kirchenbauten der Stadt, Groß-St. Martin vielleicht einmal ausgenommen. Nirgendwo wird die Signifikanz dieses Gebäudes für die Stadt sichtbarer als in der "Cronica van der hilliger Stat von Coellen" , der sogenannten "Koelhoffschen Chronik" aus dem Jahre 1499. Da zeigt sich inmitten eines fiktiven Mauernkranzes, der zu jeder beliebigen mittelalterlichen Stadt Europas hätte passen können, als einziges nach der Realität gezeichnetes Gebilde die unverwechselbare Silhouette des Domes mit dem Chor und dem Turmstumpf, der von seinem berühmten Baukran gekrönt wird. Deutlicher kann die Botschaft von der Einheit von Stadt und Dom, von der Symbolkraft des Domes für die ganze Stadt, nicht mehr ausgedrückt werden.

Von fern konnte der Chor des Domes zusammen mit dem Torso des Südturmes wirklich das Bild eines steilen Berges mit einem kleineren und einem größeren Gipfel entstehen lassen. Das war eigentlich nicht geplant, aber es paßt doch in das religiöse Programm, das der Dom vertreten sollte. Denn so wurde aus der "Stadt auf dem Berge" die "Stadt als Berg", zumindest wenn es um die himmlische Stadt geht, deren Abbild auf Erden der Dom sein sollte.

Die Kölner selbst mögen das ganz anders gesehen haben. Für sie ist sicher der Dom, der sich über Jahrhunderte lang unsymmetrisch und unfertig über ihren Häuptern erhob, eher Ausdruck von Hybris und Voreiligkeit gewesen sein als eine bestaunenswerte monumentale Landmarke. Immerhin interpretierte die Sage den jahrhundertelangen Baustopp und die vielen Widrigkeiten beim Bau als einen Fluch, der auf der Baustelle laste, weil der erste Dombaumeister, der Meister Gerhard, angeblich seine Seele dem Teufel verwettet haben soll. Aber mit dem Gleichmut, der den Kölnern schon immer zu eigen war, haben sie sich mit ihrer Bauruine schon bald arrangiert. Das bedeutet nicht, daß sie den Dom auch genug gepflegt haben. Immer wieder in seiner langen Geschichte bot der Dom durch Verwitterung und Pflanzenbewuchs sichtbare Zeichen des Verfalls. Vielleicht ist das auch eines der Zeichen dafür, daß das Verhältnis zwischen Dom und Stadt trotz aller Einheit und Verbundenheit nicht von Spannungen und Schwierigkeiten frei geblieben ist.

Niemals aber, selbst in den widrigen Zeiten der französischen Revolution, als der Dom als Pferdestall, Magazin und Gefangenenlager diente und seine Bleidächer und Bronzeverzierungen verlor, ist das Gebäude ganz zur Ruine geworden. Die unterschiedlichsten Modeerscheinungen und Architekturstile, die unterschiedlichsten historischen Ereignisse und Epochen hat er standhaft überstanden. Und so wurde der Dom mit der Zeit ein Zeichen der Beständigkeit, was niemals deutlicher wurde als in den schweren Bombennächten des Zweiten Weltkrieges, als der Dom zwar über 40 mal getroffen wurde, aber trotz schwerer Zerstörungen nicht in sich zusammenstürzte.

Für jene im Land draußen, für die Bewohner der Ebene und der angrenzenden Berge, war der hochaufragende Domchor seit jeher Zeichen der Hoffnung, der Sicherheit und der Freiheit. Dem mittelalterlichen Menschen garantierte er die Nähe machtvoller Heiliger, die mit der Stadt auch das umliegende Land beschützen konnten. Nicht umsonst wirkt in der mittelalterlichen Ikonographie die Darstellung der Stadt so, als ob Stadtmauer und Dom nur dafür geschaffen wären, die Gebeine der Heiligen Drei Könige sicher zu bergen. Weithin kündete so der künstliche Berg in der Ebene von der heilwirkenden Kraft der Kirche und bot sich als Pilgerziel über viele viele Kilometer hinweg an. Hoffnung auf Schutz durch die Macht der Heiligen, Hoffnung auf Heilung durch ihre Fürsprache verbanden sich mit der frommen Botschaft, die der Dom ins Land hinaus sandte.

Aber der Dom war weit mehr als ein Ziel für fromme Wallfahrten. Sein Anblick in der Ferne verhieß auch einen Ort, an dem Sicherheit zu finden war, wenn ringsum alles im Chaos von Krieg und Mord versank. Der Dom als Landmarke für die starke und uneinnehmbare Stadt Köln gab den Reichen und Mächtigen draußen im Lande die Zuversicht, daß sie für sich und ihre Wertgegenstände einen sicheren Hort hatten, wenn die Feinde das Land bedrängten und auch die Mauern der Wasserschlösser und Ritterburgen nicht mehr genug Schutz boten. Und immer wieder haben die vornehmen Leute des Rheinlandes diesen Schutz gesucht, im Neusser Krieg, im Kölnischen Krieg, im Dreißigjährigen Krieg oder in den Kriegen gegen Ludwig XIV. Die Freiherren und Grafen, die vornehmen Äbtissinen und Äbte, die reichen Kaufleute und Ratsherren und sogar der Kurfürst selbst suchten in Zeiten der Kriegsgefahr die schützende Nähe des Domes. Aber auch die kleinen Leute profitierten von der Sicherheit Kölns. Wenn sie auch nur in den selteneren Fällen sich selbst dorthin retten konnten, so war es den Bauern und Winzern, den Hirten und Handwerkern doch eine Beruhigung, daß die wertvollen und heilbringenden Schätze ihrer Kirchen, die Monstranzen, Kelche, Bilder und vor allem die unersetzlichen Reliquien, vor einer Plünderung durch Soldaten und Marodeure in Köln ihren Schutz fanden.

Und nicht zuletzt verhieß der Dom Freiheit für den, der sich vor gewaltsamem Zugriff retten wollte. Im Dreißigjährigen Krieg etwa, als die Menschen auf den Dörfern des Rheinlandes sich gegenseitig vor die Hexentribunale zerrten, um in einer grausamen Zeit Vorteile für die eigene Familie durch Denunzierung ihrer Nachbarn zu gewinnen, da wurde der Dom für so manchen, der den zunehmenden Druck der Verdächtigungen auf sich lasten fühlte, zum Symbol für Zuflucht und Sicherheit. Denn in Köln war ein mächtiger Stadtrat, der sich nicht so leicht einschüchtern ließ und nicht jeden, der in die Stadt geflohen war, so mir nichts, dir nichts an die Verfolger auslieferte, selbst wenn es sich dabei um die Beamten eines Kurfürsten handelte.

Der Dom war also immer schon ein Wahrzeichen. Für Generationen war der über die Dächer der Stadt hinausragende Dom ein Symbol der Hoffnung, der Beständigkeit und der Sicherheit. Und heute? Seit einigen Jahren hat der Dom die Lufthoheit über Köln verloren. Hochhäuser und Sendetürme ragen hoch in den Himmel. Wie einstmals die Kölner Kathedrale sollen die neuen Giganten des Medienzeitalters eine Verbindung zum Himmel schaffen. Doch es handelt sich um eine ganz neue Verbindung zu einem gänzlich anderen Himmel - voller Sendesatelliten und Funkwellen. Die mittelalterlichen Erbauer des Domes wollten das himmlische Jerusalem auf die Erde holen. Die Betreiber der neuen monumentalen Bauwerke wollen uns den Himmel auf Erden bereiten, mit Pay-TV, virtuellen Welten, e-commerce und globaler Kommunikation. Der Dom zu Köln, meine Damen und Herren, hat schon ganz andere Dinge kommen und gehen sehen. Lassen Sie uns also mit der Gleichmütigkeit, die uns Rheinländern eigen ist, in Ruhe abwarten, welche Himmelsbotschaft die beständigere sein wird.


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