Die Überlieferung der "68er"

Bericht über das Projekt "Quellenkunde zur Geschichte der Studentenproteste 1965-1970"

Vortrag vor der Sektion VIII des Vereins Deutscher Archivare am 1. Oktober 1998

Von Thomas Becker, Universitätsarchiv Bonn


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor zwei Jahren haben wir in der Sektion der Archive der Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen beschlossen, einen Arbeitskreis zu gründen, der sich mit der Überlieferung der 68er beschäftigen soll. Daß es dabei nicht um eine Nebensache geht, kann man schon daran ersehen, daß hier in Münster die Arbeitssitzungen gleich zweier Sektionen diesem Thema gewidmet sind.

Die Geschehnisse, die wir hier mit dem Kürzel "68" bezeichnen, haben in der Tat eine eminente zeitgeschichtliche Bedeutung. In den 40 Jahren zwischen 1949 und 1989 hat es nichts gegeben, was für die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland von annähernd großen Konsequenzen gewesen wäre, selbst wenn man den Sieg der deutschen Nationalmannschaft in Bern 1954 mit einbezieht. Aus diesem Grund hatten wir im Frühjahr 1996 in Stuttgart-Hohenheim beschlossen, in einem Quellenführer die Überlieferung der "68er" zu erschließen und damit einer zu erwartenden anschwellenden Forschung zu den Protesten der 60er Jahre zu begegnen. Ein Arbeitskreis hat sich zusammengefunden, der neben mir aus Ute Neumann von der Uni Bonn und Detlev Franz von der Uni Mainz als Studierenden und Wolfgang Müller, Eva-Maria Felschow und Jürgen Siggemann als Universitätsarchivaren besteht. Stellvertretend für sie alle möchte ich Ihnen hier über den Fortgang unseres Projektes Bericht erstatten.

In den hinter uns liegenden anderthalb Jahren intensiver Sammeltätigkeit haben wir eine erstaunliche Materialfülle zusammengetragen. Unser Ziel war es, Ihnen heute auf diesem Archivtag das fertige Buch präsentieren zu können. Aus Gründen, die nichts mit uns direkt zu tun haben, hat der Bonner Bouvier-Verlag im Juni kurzfristig das Erscheinen unseres Quellenführers vom Herbst diesen Jahres in das kommende Frühjahr verschoben. Was uns erst als sehr ärgerlich erschien, hat sich bald als positiv erwiesen, denn wir können nun nicht nur in unserer Bibliographie die neu erschienenen Titel des Jahres 1998 berücksichtigen, sondern wir haben auch noch etliche wertvolle Hinweise auf weniger bekannte Spezialarchive erhalten, die nun in den Quellenführer Eingang gefunden haben. Es hat sich nämlich erwiesen, daß unser Projekt einer systematischen Erhebung des einschlägigen Materials allenthalben auf großes Interesse gestoßen ist und daß wir in zunehmendem Maß von Mund-zu-Mund-Propaganda profitieren. So ist uns z.B. das Kieler APO-Archiv erst jetzt bekanntgeworden, und auch der Verbleib der Akten des Bundesvorstandes der "Falken" in Oer-Erkenschwiek ist uns erst seit einigen Wochen bekannt.

Inhaltlich haben wir unsere Quellenkunde in drei Abschnitte geteilt: Einen Archivführer, den wir nach verschiedenen Archivsparten getrennt haben, nämlich 1. Archive sozialer Bewegungen, 2. Medienarchive, 3. staatliche und kommunale Archive, 4. kirchliche Archive, 5. Universitätsarchive und 6. private Sammlungen. Der zweite Abschnitt ist eine chronologisch geordnete Chronik der Studentenbewegung für die Jahre 1965 bis 1970, der dritte Teil schließlich ein ausführliches Literaturverzeichnis. Das Schwergewicht liegt dabei auf den alten Bundesländern, aber auch die Schweiz und Österreich sind enthalten.

Viel habe ich gelernt in diesen vergangenen anderthalb Jahren. Viele Erfahrungen mit Kolleginnen und Kollegen habe ich machen können, die wir um Auskünfte für unseren Quellenführer gebeten haben. Das ging von heftigen Vorwürfen wegen unserer angeblichen Parteinahme für linke Spinner bis hin zur freudigen Bereitschaft zur Teilnahme an unserer Arbeitsgruppe, weil nun endlich jemand da zu sein schien, mit dem man die 1969 unterbrochene Weltrevolution wieder subversiv weiterführen kann. Dabei haben wir nichts weiter im Sinn, als in überschaubarer Weise ein Buch herauszugeben, das informieren will und nicht agitieren - was sich eigentlich von selbst verstehen sollte.

Gelernt haben wir aber vor allem Einiges über den Gegenstand. Denn obwohl das Thema "68" so viel Medienaufmerksamkeit erhalten hat, daß man meinen könnte, es sei klar und evident, worum es hier geht, mußten wir feststellen, daß einem bei intensiverer Beschäftigung dieses Thema immer wieder aus den Händen flutscht wie ein nasses Stück Seife.

Das fängt schon an beim Zeitraum, um den es hier geht. "1968" ist ja ein Schlagwort, eine Chiffre, hinter der sich eine komplexe Entwicklung verbirgt. Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Zeitgeschichte hat in seiner Chronik des Jahres 1968 (Untertitel: "Das Jahr, das alles verändert hat") darauf aufmerksam gemacht, daß "68" in gewisser Weise eine Erfindung der Medien ist und erst in den 80er Jahren auftauchte. Im Selbstverständnis der Protestbewegung, um die es hier geht, aber auch im Bewußtsein der Journalisten und der westdeutschen Öffentlichkeit war nicht 1968, sondern das Jahr 1967 das eigentliche Jahr eines vornehmlich von Studierenden getragenen politischen und gesellschaftlichen Protestes. Das entscheidende Datum war der 2. Juni 1967, an dem bei der Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien der Student Benno Ohnesorg durch die Kugel des Polizeiobermeisters Kurras tödlich getroffen wurde. Den 10. Jahrestag der Protestwelle hat man daher schon 1977 in Zeitungen und Zeitschriften kommentiert und nicht erst 1978. Erst mit zunehmendem Abstand haben sich die Krawalle nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968, die massiven Barrikadenkämpfe im Pariser Quartier Latin im weltweit bekannten "Mai ´68", der Prager Frühling des Alexander Dubcek, die Proteste gegen die Einführung der Notstandsgesetzgebung, die Ermordung Martin Luther Kings, die Studenten-Aufstände in Spanien und Mexiko und schließlich der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag zu einem vielschichtigen Bild von Aufbegehren, demokratischem Aufbruch und tragischem Scheitern zusammengesetzt, das heute unsere Sicht dieses internationalen Protestes bestimmt.

Wenn aber schon klar war, daß nicht erst das Jahr 1968 eine massenhafte Protestbewegung in Westdeutschland gesehen hatte, stellte sich uns die Frage nach dem eigentlichen Beginn und nach dem - zumindest als Einschnitt bestimmbaren - Ende dieser Bewegung. Und damit mußten wir erst einmal bestimmen, um was für eine Bewegung es sich hier eigentlich handelte.

Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß ich mich bisher bemüht habe, den Begriff "Studentenbewegung" zu vermeiden. Aus gutem Grund. Denn es zeigt sich gerade bei der Beschäftigung mit dem Umbruchsjahr 1968, daß hier eine breite Protestwelle gegen unterschiedliche politische und gesellschaftliche Gegebenheiten existierte, die nicht allein von Studierenden getragen wurde. Die Notstandsgesetzgebung als eines der zentralen Protestziele des Jahres 1968 war ein Thema der deutschen Gewerkschaften, mit dem sich die Studierenden solidarisierten, das sie durch ihre unorthodoxen und phantasievollen Methoden sogar majorisierten, das sie aber nicht allein für sich reklamieren können. Gegen die Notstandsgesetzgebung wie auch gegen andere politische Themen der damals regierenden Großen Koalition trat eine "außerparlamentarische Opposition" an, kurz "APO" genannt, die zwar immer mit den protestierenden Studentinnen und Studenten gleichgesetzt wird, die aber eben auch andere Kreise umfaßte, Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, Gewerkschafter, Arbeiter, pazifistische Ostermarschierer usw.

Man geht heute davon aus, in den Beteiligten an der Protestbewegung der späten 60er Jahre eine "soziale Bewegung" zu sehen, wie dies vor allem die Schule der Bielefelder Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey klargemacht hat. Ob es gerechtfertigt ist, diese soziale Bewegung mit der sogenannten "Neuen Linken" gleichzusetzen, halte ich für zweifelhaft. Aber auch ich verstehe diesen Protest nicht nur als Ausdruck einer politischen Bewegung, d.h. nicht nur als Ausdruck einer abweichenden politischen Meinung, sondern als Ausdruck einer von der bisherigen gesellschaftlichen Norm abweichenden Lebensauffassung. Diese veränderte Einstellung zu allen Formen der Autorität, zu allen geschlechtsspezifischen Rollen und Benimm-Regeln, zu allen gesellschaftlichen Tabus der Sexualität und der Körperlichkeit kann man schlechterdings nicht auf Studierende allein reduzieren, und damit Schülern, Lehrlingen, jungen Angestellten und Arbeitern jegliche Teilnahme an dieser gesellschaftlichen Umwälzung absprechen.

Wir haben uns dennoch entschlossen, unseren Quellenführer auf die Studentenbewegung und ihren Protest zu beschränken. Und dies aus zwei Gründen. Einmal läßt sich die studentische Alternativbewegung deutlicher als andere in der jungen Generation der 60er Jahre identifizieren und quellenmäßig festmachen. Nur hier war die Umwertung der gesellschaftlichen Werte, die Veränderung bestehender Umgangsformen und Moralvorstellungen mit einem theoretischen Überbau versehen, der in Archivalien und Literatur seinen Niederschlag gefunden hat. Gruppensex und kollektive Nacktheit dienten bei der berühmten Berliner Kommune 1 eben nicht nur dem dumpf empfundenen Lustgewinn, sondern sie waren Resultat theoretischer Überlegungen zur Veränderung der bisherigen gesellschaftlich diktierten Rollenzuweisungen - was immer man von heute her gesehen davon halten mag. Seit Einführung der Anti-Baby-Pille dürfte auch in nicht-studentischen Milieus ein anderer Umgang mit Sexualität versucht worden sein - aber wir können diese unpolitische und nicht theoretisch reflektierte Aneignung neuer Moralvorstellungen nicht an Archivalien festmachen. Ein Quellenführer, der allgemein die gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland archivisch nachzuweisen versucht, würde, so scheint es uns, in die reine Beliebigkeit führen oder aber äußerst dünn geraten.

Aus dieser ersten Überlegung ließ sich eine zweite ableiten. Wenn wir uns auf die Studierenden als Protestgruppe beschränken und damit die zeitgenössische Bezeichnung "Studentenbewegung" als Leitmotiv aufnehmen, dann sind wir viel besser in der Lage, eine zeitliche Eingrenzung unseres Phänomens vornehmen zu können. Die "Studentenbewegung" als soziale Bewegung, die sich zugleich eindeutig politisch artikulierte, ist nämlich wesentlich klarer zeitlich bestimmbar als eine allgemeine Jugendbewegung, weil hier bestimmte Führerfiguren und bestimmte politische Organisationen auftauchen, an deren konkreter Geschichte sich die Entwicklung der ganzen Bewegung festmachen läßt. Das ist in Deutschland natürlich in erster Linie Rudi Dutschke - und neben ihm als Wanderer zwischen den Welten der deutschen und französischen Studenten Daniel Cohn-Bendit - und das ist der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der SDS, als politische Kaderorganisation. Diese Entscheidung, den Weg zur Identifikation der Bewegung nicht über die Strukturgeschichte, sondern über die Ereignisgeschichte zu suchen, scheint uns der richtige Weg zu sein, um dem Projekt "Quellenführer" ein fest umrissenes Arbeitsfeld zu geben.

Der SDS war in den ersten Jahren der zweiten deutschen Republik die studentische Jugendorganisation der SPD. Nach dem Godesberger Programm, dessen Wende zur Marktwirtschaft die Studenten nicht mittragen wollten, kam es zu größer werdenden Spannungen, die 1961 darin gipfelten, daß sich die SPD vom SDS trennte. Dieser nun unabhängige SDS war in der ersten Hälfte der 60er Jahre eine eher unbedeutende studentische Gruppierung, die nicht viel mehr als 1000 Mitglieder bundesweit aufzubieten hatte. In diesen Zirkeln, vor allem in Berlin an der Freien Universität, vollzog sich aber eine Aneignung gänzlich neuer Ideen zur Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft ohne Repression und Zwänge. Genauso wie anderswo auf der Welt, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, Italien oder den Niederlanden, bemühten sich jungen Leute in linken Diskussionszirkeln um eine neue und vom Stalinismus nicht entstellte Interpretation des Marxismus. Nicht Lenin sondern Mao Tse Tung wurde daher zur neuen Leitfigur, nicht die Werke klassischer Marxisten waren Grundlage für die Entwicklung neuer Theorien, sondern die bisher eher unbekannt gebliebenen Schriften der sogenannten "Frankfurter Schule" um Herbert Marcuse. Aus Büchern wie "Die Verdammten der Erde" des schwarzen Arztes Frantz Falon bezogen die Studentinnen und Studenten Argumente gegen die Außenpolitik der westlichen Industriestaaten gegenüber der Dritten Welt. Die Konfrontation der Bundesrepublik mit der 20 Jahre lang vielfach verdrängten NS-Zeit durch den Auschwitz- und den Eichmann-Prozeß ließen neben diesem Imperialismus-Vorwurf die Frage nach dem Faschismus und nach dem Weiterwirken ehemaliger Faschisten in den Führungseliten der Bundesrepublik Deutschland wachwerden. Durch diesen Zweifel an der moralischen Autorität der Generation ihrer Eltern kamen die jungen Leute zu einer Haltung des grundsätzlichen In-Frage-Stellens jeglicher Autorität.

In der Mitte des Jahrzehnts wuchs die Bereitschaft, nicht mehr nur in kleinen Zirkeln zu diskutieren, sondern sich mit der eigenen Meinung und den politischen Forderungen an die Öffentlichkeit zu wagen. In Deutschland zeigt sich diese neue Protesthaltung zum ersten Mal bei einer Aktion des Berliner SDS gegen den Besuch des kongolesischen Staatspräsidenten Moise Tschombe im Herbst 1964. Sie war noch sehr isoliert und wenig beachtet. Im darauffolgenden Jahr aber diente die Erfahrung der Tschombe-Demonstration aber als Grundlage für eine ganze Serie von Protesten, die sich einerseits gegen die reformbedürftigen Verhältnisse an den westdeutschen Universitäten richteten, andererseits aber allgemeinpolitische Themen zum Ziel nahmen. Vor allem der Vietnamkrieg wurde nun zum Zentrum des studentischen Protestes. Nicht nur in Berlin, sondern z.B. auch in Tübingen, kam es 1965 zu Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Sie markieren den Beginn einer Serie von Anti-Vietnamkriegs-Aktionen, die von nun an zum Alltag von Universitätsstädten gehörten. Der Protest gegen die Bildungssituation hatte ebenfalls im Jahr 1965 in der bundesweiten Aktion "1. Juli" des Verbandes Deutscher Studenten (VDS) erstmals einen starken Ausdruck gefunden.

Wir haben daraus den Schluß gezogen, daß es sinnvoll ist, unsere Quellenerfassung mit dem Jahr 1965 beginnen zu lassen. Andere Quellenverzeichnisse, wie das von Herrn Polster, über das er heute noch sprechen wird, beginnen erst ein Jahr später. Das ist meines Erachtens auch je nach Gegenstand gerechtfertigt. Die Aktionen des Jahres 1965 haben einfach noch nicht das Medienecho erfahren, das die späteren APO-Aktivitäten begleitet hat.

Schwieriger war für uns schon die Frage nach dem Ende des Zeitraums, den wir aufnehmen wollten. Wir haben - um es gleich vorweg zu sagen - bei der Auflistung der Archivbestände darauf verzichtet, ein Limit zu setzen. Angaben, die bis in die Zeit der Friedensbewegung hineinragen, haben wir nicht einfach deswegen wieder gestrichen, weil sie nicht in unser Zeitschema paßten. Aber eine Orientierung brauchten wir schon. Für unsere Chronik der Ereignisse haben wir die Zäsur des Jahres 1970 als Endpunkt genommen. In diesem Jahr löste sich der SDS selbst auf, weil er schon seit einiger Zeit in Flügelkämpfe verwickelt war. Die Masse Studierenden hatte sich seit der Wahl Willy Brandts zum neuen Bundeskanzler im Jahr 1969 mit der Politik arrangiert und begrenzte ihren Protest auf die Hochschulangelegenheiten oder auf die häuslichen Auseinandersetzungen mit den Eltern um lange Haare, Haschisch und freie Liebe. Die Protestbewegung als Ganze war damit aber noch nicht erledigt. Der Jugendprotest, vor allem der linken Schüler- und Studentenschaft, ging auch in den 70er Jahren weiter, überschattet vom Problem des Terrorismus, der zwar nicht mit der Studentenbewegung identisch ist, aber doch aus ihr erwuchs. RAF, Radikalenerlaß und Dritte-Welt-Problematik ließen die westdeutschen Hochschulen auch in den 70er Jahren noch nicht einfach zur Ruhe kommen, ganz abgesehen davon, daß die einmal angestoßene Frage der Bewältigung der NS-Vergangenheit ihre eigene Dynamik entfaltet hat. Diese Entwicklung kam - zumindest meiner Meinung nach - erst 1977 zum Ende. Mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, mit der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut und schließlich mit dem Kollektivselbstmord der inhaftierten Mitglieder der Baader-Meinhoff-Bande war ein Schlußpunkt erreicht. Gleichzeitig mit den Geschehnissen des "deutschen Herbstes" trat eine neue Hochschulgesetzgebung in Kraft, die den ASten das allgemeinpolitische Mandat nahm und auch so zu einem Ende des bisherigen studentischen Protestes führte. So haben wir uns für das Jahr 1977 als Endpunkt für unsere Berichterstattung entschieden.

Inhaltlich entspricht die Überlieferung der Studentenbewegung dem, was man von ihr in den Archiven der Hochschulen und der öffentlichen Hand zu erwarten hat. Herr Kollege Dohms wird am Beispiel von Nordrhein-Westfalen noch detailliert darauf eingehen. Von studentischer Seite wird die Überlieferung geprägt durch Flugblätter und studentische Zeitschriften, in denen die politischen Auseinandersetzungen an den Universitäten und mit der Staatsgewalt dokumentiert und kommentiert werden. Auf staatlicher Seite wird dieses Material ergänzt durch die Unterlagen der Strafverfolgungsbehörden, in den Prozeßakten wegen Sachbeschädigung, Landfriedensbruch oder Erregung öffentlichen Ärgernisses. Damit ist die politische Seite der Protestbewegung bestens erhalten und leicht auszuwerten.

Was fehlt, trotz der reichen Überlieferung privater Sammler und engagierter Beobachter, ist die Innensicht in die Veränderungen kollektiver Mentalitäten, die den Weg hin zur deutschen Gesellschaft der Gegenwart weisen, jene Auseinandersetzung mit dem Wertesystem der Adenauerzeit, jene bisweilen hoffnungsvolle, bisweilen verzweifelte Suche nach einer neuen besseren Welt, die als das bis zum Mythos übersteigerte Kennzeichen der "68er" gilt. Hier ist die interpretatorische Fähigkeit künftiger Forschergenerationen gefragt, denen man für diese Aufgabe nur wünschen kann, was Daniel Cohn-Bendit im Mai 68 in Paris als Parole ausgab: "Die Phantasie an die Macht!"


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