von Thomas P. Becker
Die beiden Begriffe "Dom" und "Raum" geschichtlich zu deuten, meine Damen und Herren, das erscheint auf den ersten Blick etwas schwierig zu sein. Zu sehr ist die Raumwirkung eines gotischen Domes Sache der Kunstgeschichte zu sein, als dass es von seiten der Geschichtswissenschaft noch viel dazu zu sagen gäbe. Aber auf den zweiten Blick ist da doch einiges, was gerade die Aufmerksamkeit des Historikers erregen muss. Denn Dome, insbesondere gotische Kathedralen wie in Köln, sind Gebilde, die in einer ganz besonderen Art und Weise nicht nur Räume darstellen, sondern Räume schaffen. Was nämlich ist ein Raum? Er ist etwas Umgrenztes, etwas, das eingeordnet werden kann, weil es sich von Anderem unterscheidet. Das Meer ist kein Raum. Wer auf einem Schiff mitten auf dem Atlantik treibt, der wird den Ozean als unendliche Weite erleben, aber er wird ihn nicht als Raum beschreiben. Räume werden in der Wahrnehmung des Menschen durch Grenzen oder durch Markierungen geschaffen. Und nichts war über viele Jahrhunderte hinweg so sehr geeignet, Orientierung in der Weite des Geländes zu schaffen wie die hoch aufragenden Gebäude der christlichen Kirchen.
In drei Schritten will ich vorgehen, die uns dem Dom immer näher bringen sollen. Betrachten wir zunächst den Dom von weither, so wie er dominierend im Raum der Kölner Bucht lag. Man muss sich einmal einen Moment lang in einen mittelalterlichen Bauern am Rande der Eifel oder des Bergischen Landes versetzen. Als Eigentum seines Grundherrn hatte er Tag um Tag auf seiner Scholle zu arbeiten. Die mit den eigenen Füssen erwanderte Welt ging oft nicht weiter als bis zum Nachbardorf. Und da erhebt sich auf einmal seit dem Jahre 1248 mitten in der Ebene ein von Menschen geschaffener Berg, eine riesige Erhebung, dort, wo vorher keine war. Es ist der gotische Chor des neuerbauten Kölner Domes. Das war ein Symbol der Hoffnung und des Heils, denn dieser künstliche Berg, das wussten die Menschen sehr wohl, war errichtet worden als monumentaler Schrein für die Gebeine der Heiligen Drei Könige. Aber die hoch aufragenden Giebel und Türme der gotischen Kathedralen waren zugleich noch ganz andere Orientierungspunkte. Es waren Leuchtfeuer der Freiheit. Was nämlich sind Kathedralen? Es sind städtische Kirchen. Und was, so müssen wir hier im Blick auf das Mittelalter fragen, was ist, oder besser war, eine Stadt? Sie war ein Hort der Freiheit. "Stadtluft macht frei", das war ein Motto, das die Menschen von weither anzog, damit sie aus der Klammer ihrer ländlichen Leibeigenschaft entfliehen konnten, denn "Luft macht eigen", und wer erst einmal die Luft der Stadt einatmete, der gehörte nach Jahr und Tag nicht mehr seinem Grundherrn. Die Mauern der Stadt nämlich begründeten einen eigenen Raum, einen Rechtsraum, in dem die Ansprüche eines anderen Eigentümers nichts mehr galten. Kathedralen als Zeichen dieser Freiheit bedurften also der Städte. Dom als raumgliedernde Landmarke und Stadt als Rechtsraum bedingen einander. Städte aber hat es, trotz der Siedlungskontinuität in den großen spätantiken Bischofssitzen wie Köln oder Trier, im rechtlichen Sinne im frühen Mittelalter gar nicht gegeben. Der alte fränkische Dom des Kölner Bischofs Hildebold hätte nicht als Symbol städtischer Freiheit wirken können, selbst wenn man ihn senkrecht in die Luft gebaut hätte. Dazu mußte erst die landwirtschaftliche Revolution des 11. Jahrhunderts kommen, die Einführung von Dreifelderwirtschaft, eisernem Pflug und Zugtieren, um durch den entstandenen Bevölkerungsüberschuß den nötigen Druck zu erzeugen, der dann zur Ansiedlung von immer mehr Menschen an Handelsorten und Kirchen mit bedeutenden Reliquien führte, denen von Fürsten und Königen dann Zug um Zug Privilegien erteilt wurden, die sie von der Umgebung unterschieden und eine neue Rechtsqualität schufen, eben einen eigenen Raum, den der Stadt. Man kann sich gar nicht genug klarmachen, welche gesellschaftliche Revolution die Entstehung der mittelalterlichen Stadt für die damalige Gesellschaft bedeutete. Die Kirche, die wesentliche kulturschaffende Macht seit der Zeit der Merowinger, war ganz auf das Ideal des Klosters ausgerichtet gewesen. In monastischer Abgeschiedenheit waren die großen kulturellen Traditionen des Abendlandes durch die Zeiten der Wikingerstürme hindurch bewahrt worden. Nun aber waren Städte da, und die Kirchen, die in ihrer Mitte standen, erhielten eine ganz neue Bedeutung.
Nicht mehr die Klöster, sondern die Kathedralschulen der Bischofssitze wurden die Träger von Bildung und Wissenschaft. Und diese Wissenschaft veränderte sich. Nicht mehr nur die fromme Kommentierung der Heiligen Schrift wurde Ziel der geistigen Ausbildung, sondern das suchende Fragen nach allen Erscheinungen der Welt. Die Dialektik wurde zum Zentrum der freien Künste, die den Lehrplan bestimmten, und der von den Arabern übernommene Aristoteles wurde zum Wegbereiter eines neuen Denkens. Damit schufen die Dome Raum, Frei-Raum nämlich für neue Fragen und neues Wissen. Auch hierin waren sie Leuchtfeuer der Freiheit. Die Theologie folgte den Spuren des Dionysius Areopagita und suchte Gott nicht mehr nur im Guten und in der Liebe, sondern auch im Schönen. Und das Schöne, das uns der Anschauung Gottes am meisten näherbringt, das war das Licht. Dieses Licht wollte man nun auch in die Kirchen bringen. Aber eben in jene Kirchen, an denen auch das neue Denken zuhause war. Die Wiege der Gotik ist nicht die Bourgogne mit ihren monastischen Zentren von Cluny bis Citeaux, sondern es ist die Ile-de-France, in der Bischofssitz neben Bischofssitz lag. Es ist vielleicht eine Ironie der Geschichte, dass gerade der Abt einer Klosterkirche, Suger von St. Denis, Konsequenzen aus dieser neuen Gottessicht zog und nach neuen Wegen der Architektur suchte, die weg von der kontemplativen Harmonie der Romanik und hin zu einer neuartigen Verherrlichung Gottes im Licht strebten. Nicht die Klöster nahmen die Ideen Sugers auf, sondern die Bischofskirchen. Die Kathedralen von Laon, Chartres, Reims und Amiens schufen in immer weitergehender Verfeinerung jene hochstrebenden und geradzu schwerelosen Räume, in denen die Schönheit Gottes in farbenfrohem Strahlen eingefangen werden sollte. Und sie konnten dies nicht zuletzt deswegen tun, weil an ihren eigenen Kathedralschulen die neue Wissenschaft von der Mathematik gelehrt wurde, die man von den Arabern gelernt hatte. Sie gab der Architektur neue Möglichkeiten in die Hand. Doch kommen wir darauf gleich noch einmal zurück.
Nachdem wir den Dom von Ferne als raumbestimmende Landmarke gesehen und seine Entstehungsbedingungen im Zusammenhang mit dem Werden der Stadt und der Entwicklung der scholastischen Methode betrachtet haben, sollten wir den Dom als zweiten Schritt in seiner eigenen raumgebenden Funktion für diese Stadt in den Blick nehmen. Und ich meine damit nicht, dass der Dom durch seine gewaltigen Dimensionen das Stadtbild beherrscht. Das versteht sich von selbst und es ist heute, nach der Vollendung im 19. Jahrhundert, nicht anders als im Mittelalter. Aber der Dom hat auf zweierlei Weise raumbildend in der Stadt gewirkt, ohne dass dies etwas mit seinem Erscheinungsbild zu tun hätte. Da ist einmal der ihn umgebende Platz. Rund um den Dom und die zum Dom gehörigen Gebäude verlief eine Mauer. Sie begrenzte die Dom-Immunität, den Bereich, in dem das städtische Recht nicht galt und der Stadtrat keinen Zugriff hatte. Also haben wir es hier wieder mit einem Raum zu tun, einem Rechtsraum, einer weiteren Unterteilung innerhalb des von den Stadtmauern schon definierten Rechtsraumes Stadt. Das war beileibe keine Kleinigkeit, keine simple Grundstücksbegrenzung wie ein Gartenzaun. Ende des 15. Jahrhunderts beschwerte sich der Rat der Stadt beim Erzbischof über die Domkapitulare. Dabei verlangte er, der Erzbischof solle verbieten, dass innerhalb der Domimmunität rund um den Dom herum lebhafter Handel getrieben werde, sogar an Sonn- und Feiertagen. Der Dom sei schließlich die Hauptkirche der Stadt und kein Kaufhaus. Genutzt hat es nichts. Die Erwähnung des Domes als Hauptkirche führt uns zur zweiten raumgebenden Qualität der Kathedrale für die Stadt. Es ist die enge religiöse Verbundenheit mit dem Dom, die sich in vielfältiger Weise ausdrückt. So ist einmal die Vorstellung vorhanden, nicht nur der Dom, dieser meterhohe Reliquienschrein aus Stein und Glasfenstern, sei der Hort der Gebeine der Heiligen Drei Könige, sondern die ganze Stadt Köln sei ihre "Schlafkammer". Der Beitrag zum Aufbau des Domes war bis in die Zeit der Reformation hinein fester Bestandteil des Testamentes eines echten Kölners. Und das trotz der Vielzahl von Kirchen und Kapellen, die das Antlitz dieser Stadt doch kennzeichneten. Aber der Dom war nicht nur Identifikationsobjekt. Er war auch fester Bestandteil des religiösen Lebens in den übrigen Stiften, den einzelnen Stadtteilen und den Pfarrgemeinden. Die bis auf spätrömische und fränkische Wurzeln zurückgehende liturgische Tradition der Kölner Kirche sah für etliche hohe Feiertage eine gemeinsame Feier aller Stifte und Klöster vor. Diese bildeten dadurch eine sogenannte "Kirchenfamilie". Das Herz dieser Kirchenfamilie aber war der Dom. Nach dem Vorbild Roms wurden in Köln Stationsliturgien gefeiert, bei denen man in feierlicher Prozession zu verschiedenen Kirchen zog, um am Ende im Dom anzukommen. Der Dom bildete so mit den anderen Kölner Kirchen zusammen einen liturgischen Raum, in dem wieder Stadt und Kathedrale auf einander bezogen waren.
Doch lassen sie uns nun den dritten Schritt tun. Betrachten wir den Dom selbst als Raum, begeben wir uns in sein Inneres und lassen ihn auf uns wirken. Allerdings müssen wir uns zunächst daran erinnern, wie dieser Dom bis zu seiner Vollendung im 19. Jahrhundert aussah. Es war die vielleicht merkwürdigste Kirche der Christenheit. Betreten wurde er durch den südlichen der beiden Türme, einen grotesken Stumpf, der zwar von beachtlicher Höhe war, aber durch das Fehlen seines nördlichen Zwillings und durch den fehlenden Abschluß seltsam unfertig. Zudem war er gekrönt durch einen Baukran, der für Jahrhunderte zum Wahrzeichen Kölns wurde. Hinter dem Turmstumpf befand sich zunächst noch der Baukörper des langgestreckten karolingischen Domes. Beim Baubeginn des gotischen Gotteshauses hatte man den östlichen, dem Rhein zugewandten Chor dieses romanischen Domes durch Feuer unter den Mauern zum Einsturz bringen wollen, aber der Wind hatte die Flammen auflodern lassen und den gesamten alten Dom in Band gesteckt. Das Langhaus, durch das man nun also seine Schritte lenkte, war nicht einmal das des 9. Jahrhunderts, sondern es war das, was nach der Brandkatastrophe im 13. Jahrhundert notdürftig wiederhergestellt worden war. Erst nach und nach gelang die gotische Umgestaltung der Seitenschiffe, aber ohne die charakteristischen hohen Gewölbe. Es wurde sozusagen nur das "Erdgeschoß" des Langhauses fertiggestellt, ohne Seitenschiffe, ohne Kreuzgewölbe und ohne die großen Glasfenster, die heute dort zu sehen sind. Nur einfache Satteldächer schützen den Kirchenraum und die mächtigen kandelierten Säulen gegen den Regen. Ein Monument der Unvollkommenheit. Wenn man aber am Ende dieses Langhauses angekommen war, dann allerdings erwartete einen etwas, das man sein Leben lang nicht mehr würde vergessen können. Unvermittelt trat man ein in den hellen, hochaufragenden, von farbigem Licht erstrahlenden gotischen Hochchor. Die gewaltige Höhe dieses Raumes, den wir hier hinter uns aufragen sehen, muss noch erstaunlicher erschienen sein, wenn man von dem viel niedrigeren Langhaus hereintrat, das früher hier stand. Hier fand sich die Idee der Gotik in ihrer höchsten Vollendung. Nirgendwo in den Kathedralen Frankreichs oder Englands sind die Arkaden im Triforium lichter, ist der Übergang vom Langchor zum Rundchor gelungener als hier in Köln. Die neuen Möglichkeiten der Architektur, hervorgegangen aus der Mathematik und bereichert von der Theologie, sind hier zu ihrem Höhepunkt gelangt. Der gotische Kölner Dom in seiner mittelalterlichen Form, der weithin sichtbare, die Stadt auf sich beziehende, der raumbildende hochaufragende Chorbau, war damit vor allem ein überwältigendes Raumerlebnis, dem sich - von Petrarca bis Goethe - niemand entziehen konnte. In dem Versuch, die Schönheit Gottes im Zusammenspiel von Licht und Formen anzudeuten, wird der Raum selber zum Gebet, zu einem zum Himmel emporsteigenden andauernden Hymnus, zu einem "Lobgesang aus Stein".